Gute Bücher und was weiter

Zuruf Genossin Christa Wolf, Kandidat des ZK, auf dem 11. Plenum des ZK der SED (16. bis 18. Dezember 1965)

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Gute Bücher und was weiter

Ich bin an und für sich gar nicht für große Worte, aber ich möchte sagen, da es mir heute angebracht erscheint, zu sagen, daß ich sehr froh bin, daß ich hier lebe und schreibe und daß ich in dem Schriftstellerverband bin, in dem Becher und Brecht gewesen sind und in dem heute Anna- Seghers Präsidentin ist.

Bei uns im Verband ist es so, daß der Kern der Genossen Schriftsteller, die dort im Verband arbeiten, zu denen ich mich rechne, und auch der Kern der Genossen im Vorstand, wenn sie DDR sagen, „wir" sagen, wenn wir Partei sagen, sagen wir „wir", und davon lassen wir uns nicht durch irgendwelche Lobhudeleien von irgendeiner Seite abbringen, die das manchmal versucht. Davon gehen wir kein Jota ab, und der Stolz, hier zu leben und in diesem Verband zu arbeiten und Schriftsteller zu sein, ist in diesem Jahr bei mir persönlich — ich habe mich noch nicht mit vielen meiner Kollegen darüber unterhalten können - sehr stark gewachsen, durch mehrere Ereignisse, von denen das wichtigste das Internationale Schriftstellertreffen in Weimar im Mai dieses Jahres war. Es hat gezeigt, daß unser Verband in der Lage ist, etwas zu organisieren und durchzuführen, was uns internationales Ansehen schafft und das auf richtige und auch in der Form gute Weise unsere Politik und unsere Kulturpolitik an Menschen anderer Länder heranbringt

Höhere Ansprüche

Ich entsinne mich noch, wie ich mit einer Gruppe von ausländischen Schriftstellern auf die Dornberger Schlösser gefahren bin, wir sahen uns um, und sie sagten: Ihr habt wirklich ein schönes Land. -» Ich habe das in dem Moment auch sehr stark empfunden, daß wir das haben und daß das unser Land ist, und das ist unser Gefühl für dieses Land: das möchte ich in voller Verantwortung hier behaupten, und ich glaube, daß es das ist, wovon auch meine Kollegen ausgehen.

Ein zweiter Punkt, der dieses Gefühl in mir besonders stark genährt hat, sind die ungeheuer vielen Diskussionen gewesen, die ich in den letzten Jahren auf Grund meines Buches mit sehr vielen Leuten in der DDR hatte. Ich hatte über 700 Einladungen, und nicht nur ich, Strittmatter, Neutsch, Noll, allen geht es genauso. Natürlich habe ich nicht alle wahrnehmen können, aber sehr viele habe ich wahrgenommen, und ich muß sagen, daß ich mit dem Gefühl aus diesen Diskussionen gegangen bin: Diese Menschen, die hier bei uns gewachsen sind, sind reif dafür, wirklich zu verstehen, worum es geht, reif dafür, solche Literatur, wie sie in den letzten Jahren entstand, zu begreifen, richtig zu verstehen, und durch ihre Anregungen, durch ihre Kritik und dadurch, wie sie sich dazu verhalten, weiterzuentwickeln. Das ist in den letzten Jahren ein Grundprozeß gewesen, der sehr stark gewirkt hat auf alle, aber auf uns Schriftsteller besonders.

Der dritte Punkt, der mich und meine Kollegen dazu bringt, immer wieder so gern hier zu leben und nur hier schreiben zu wollen und nur hier arbeiten zu wollen, das sind die Möglichkeiten, die wir in der letzten Zeit des öfteren hatten, nach Westdeutschland zu fahren. Wenn man zurückkommt, sagt man: zu Hause! Und dieses Gefühl ist bei allen Kollegen, die ich kenne und die in Westdeutschland gewesen sind und dort ihren Mann gestanden haben, in den mir bekannten Fällen wirklich der Fall. Es ist so: In Hamburg war ich vor vier Wochen. 500 Leute sind in die Universität gekommen. Ich habe gelesen, und dann hat man mir Fragen gestellt. Ich wußte, daß im Saal der Herr Zehm sitzt, den ich besonders mag und der uns ja auch sehr liebt. Die Fragen werden schriftlich gestellt, und eine Frage war dabei: Was halten Sie von der Sprache im „Neuen Deutschland"? Ich habe gesagt: Sie erwarten offenbar, daß ich mich kritisch äußere zu der Sprache einer Zeitung, die nicht eine einzige Zeile von Kriegs- und Rassenhetze veröffentlicht, aber Sie werden sich darin irren; ich möchte mich kritisch äußern und sagen, daß wir sehr aufmerksam die Entwicklung einer Zeitung beobachten, die in letzter Zeit durch die Feder des Herrn Zehm unflätige Beschimpfungen gegen Peter Weiss wegen der „Ermittlung" ausgesprochen hat. — Daraufhin hatte ich großen Beifall in diesem Saal. Ich habe so getan, als ob ich nicht wüßte, daß Herr Zehm da ist. Am nächsten Tag hat er mächtig auf mich geschimpft nicht wegen der Sache, sondern wegen meiner Literatur, aber das ist mir vollkommen egal.

Mit offenem Visier

In diesem Sinne sollten wir weiter offensiv bleiben und uns die Möglichkeiten, das zu sein, soweit wie möglich halten.
Die Erfahrung zeigt: Welche Bücher, Stücke und Filme haben in den letzten Jahren im Westen — als Sammelbegriff gewirkt? Die Bücher und die Filme und die Stücke, die unser Gesicht zeigen. Ich spreche letzt nicht von Talent und von den verschiedenen Qualitätsstufen, das steht mir im Moment nicht zu. sondern davon, daß auch in Westdeutschland die Leute, die sich wirklich für unsere Literatur interessieren, etwas über uns erfahren und nicht einen zweiten Aufguß von dem wollen, was sie sowieso haben. Das sagen sie auch Leuten, die das manchmal versuchen. Und ich muß dazu sagen, daß wiederum die Schriftsteller bei uns sich dessen bewußt sind.

Jugendprobleme

Man hat zu mir gesagt: Wie stehen Sie zur Gesellschaftskritik, zur Kritik in der Literatur? — Daraufhin habe ich geantwortet: Literatur ohne Kritik ist nicht denkbar. Aber was Sie meinen, ist etwas anderes: Sie meinen Kritik an den Grundlagen unserer Gesellschaft. — Ja. — Dann sagte ich: Dazu stehe ich negativ, absolut. Warum? Dann können Sie keine gute Literatur machen, entgegnete man mir. Da habe ich gesagt: In dem Moment, da ich der Ansicht wäre, daß es richtig und nötig wäre, an den Grundlagen unserer Gesellschaft zu zweifeln, würde ich versuchen, so zu schreiben. Dieser Ansicht bin ich aber nicht. Ganz im Gegenteil, ich bin der Ansicht, daß die sozialistische Gesellschaft nicht nur die Gesellschaft an sich weiterentwickelt, sondern die einzige Gesellschaft ist, die der Literatur und Kunst eine wirklich freie Entwicklung ermöglicht.

Ich möchte noch etwas als Anregung für die Genossen aus anderen Bezirken sagen. Wir haben in Potsdam auf unserer letzten Parteiversammlung den anwesenden Genossen der Bezirksleitung vorgeschlagen, sie möchten sich mit uns, der FDJ und den anderen in Frage Kommenden zusammensetzen und ein Programm beschließen, wie, im nächsten Jahr sich Schriftsteller in die Jugendarbeit einschalten können, mit welchen Mitteln, wo und wann. Ich muß saßen, mein letztes Jahr war neben der Arbeit mit Westdeutschland vor allem mit Jugendarbeit ausgefüllt.

Vielleicht erinnern sich manche Genossen, daß die Schriftsteller auf der ersten Besprechung mit Genossen Ulbricht dieses Problem stellten und daß wir sehr froh waren über die Aufnahme der kritischen Stimmen, die warnten, daß mit der Jugend etwas passiert, was nicht gut ist. Wir sagten damals: Sie wird entideologisiert, entpolitisiert, wir schmeißen ihr den Beat an den Kopf, anstatt sie mit geistigen Problemen so vollzustopfen, daß sie gar nicht anders kann als nachzudenken, wozu sie lebt, wozu sie hier lebt; denn sie weiß es nicht.

Zu Werner Bräunig

Ich bin in einem Punkt in einem wirklichen Konflikt, den ich nicht lösen kann. Ich bin nicht einverstanden mit der kritischen Einschätzung des Auszugs aus dem Roman von Werner Braunig in der „NDL", weil ich glaube und weiß, daß Werner Bräunig dieses Buch nicht geschrieben hat, weil er im Westen verkauft werden will — das halte ich für eine haltlose Verdächtigung, die einem Schriftsteller gegenüber, der dafür keinerlei Handhabe geliefert hat, nicht angebracht ist — und weil es kein Wismutroman ist, obwohl er als das gilt. Er ist es wirklich nicht. Ich kenne eine frühere Fassung des ersten Teils. Darauf kann ich mich jetzt nicht berufen. Aber ich kenne die Konzeption und weiß, daß es kein Wismutroman, sondern der Roman der Entwicklung eines jungen Menschen ist, der die tiefsten Tiefen durch die Hilfe der Partei überwindet und zu einem klaren- Menschen wird, der heute ganz klar bei uns ist. Das hat Bräunig in seinem Brief selber geschrieben. Meiner Ansicht nach zeugen diese Auszüge in der „NDL" nicht von antisozialistischer Haltung, wie sie ihm vorgeworfen wird. In diesem Punkt kann ich mich nicht einverstanden erklären. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ich glaube es nicht.

Natürlich, es ist richtig, was gesagt wurde, daß die Kompliziertheit des Schreibens heute immer stärker wird. Es ist wirklich kompliziert zu schreiben. Man darf nicht zulassen, daß das freie Verhältnis zum Stoff, das wir uns in den letzten Jahren durch einige Bücher, durch Diskussionen und durch bestimmte Fortschritte unserer Ästhetik erworben haben, wieder verlorengeht. Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, hier über Psychologie zu sprechen. Aber es ist so, daß die Psychologie des Schreibens ein kompliziertes Ding ist und daß man vielleicht für eine gewisse Zeit, wenn auch nicht gut und nicht leicht, meinetwegen einen Betrieb leiten kann, vielleicht sogar ein halbes Kulturministerium, wenn man sich in einem tiefen Konflikt befindet, aber schreiben kann man dann nicht.

Auf der Bitterfelder Konferenz wurde gesagt, daß Kunst nicht möglich ist ohne Wagnis. Die Kunst muß auch Fragen aufwerfen, die neu sind, die der Künstler zu sehen glaubt, auch solche, für die er noch nicht die Lösung sieht. Was für Fragen meine ich? Nicht in engem Sinne naturalistische, wirtschaftliche Probleme, sondern es geht um folgendes: Als ich aus Westdeutschland zurückkam, beschäftigte mich tief das Problem des Menschentyps, der sich in beiden deutschen Staaten in bestimmten Schichten der Bevölkerung, unter der Jugend, in bestimmten Berufen usw. ganz differenziert entwickelt. Das ist die typische Literaturfrage. Wir haben dabei sehr wenig Hilfe, weil unsere Soziologie und Psychologie uns wenig an Verallgemeinerung gibt. Wir müssen selbst auf diesem Gebiet studieren und experimentieren, und es wird nach wie vor passieren — es wird auch mir passieren oder schon passiert sein — , daß man etwas verallgemeinert, was nicht verallgemeinernswert ist. Das kann sein. Dazu möchte ich aber sagen, daß die Kunst sowieso von Sonderfällen ausgeht und daß Kunst nach wie vor nicht darauf verzichten kann, subjektiv zu sein, das heißt, die Handschrift, die Sprache, die Gedankenwelt des Künstlers wiederzugeben.

Fehler — und ihre Ursachen

Ich möchte auch sagen, daß der Begriff des Typischen, der in der Diskussion mehrmals gebraucht wurde, auch seine sehr genaue Untersuchung verlangt, daß man nicht wieder zurückfällt auf den Begriff des Typischen, den wir schon mal hatten und der dazu geführt hat, daß die Kunst überhaupt nur noch Typen schafft.

(Margot Honecker: Dagegen sind .wie doch auch!)

Das weiß ich. Ich weiß aber auch ganz genau, Genossin Honecker, daß diese Gefahr nicht überwunden ist. Wir sind aufgefordert worden, solche Sachen zusagen und ich sage es.

(Zuruf: Das hört sich bald an wie eine Verteidigungsrede.)

Ich verteidige nicht alles. Ich verteidige zum Beispiel nicht irgendwelche Sachen, die Leute gegen uns geschrieben haben und die gegen uns ausgenutzt werden können.

(Zuruf: Und diese beiden Filme?)

Ich habe nur „Denk bloß nicht, ich heule" gesehen, den ich schlecht finde, und der ist tatsächlich schlecht. Ich habe das „Kaninchen" noch nicht gesehen und kann mich dazu nicht äußern.

(Inge Lange: Wie kommt es, daß solche Filme gemacht werden? Was geht in den Köpfen der Künstler vor?)

Das hat Genosse Witt in einigen Andeutungen richtig gesagt, wie das zustande kommt.

(Inge Lange: Wer drängt ihn. so etwas zu tun?)

Niemand drängt ihn.

(Gen. Kayser: Die Sucht interessant sein zu wollen ...)

Nein, Genossen, ich bin nicht der Ansicht. Ich vertrete solche Sachen nicht. Ich möchte, daß ihr das wirklich glaubt. Ich möchte nur hinweisen auf bestimmte Kompliziertheiten, die es hier in diesem Prozeß gibt

(Zuruf: Christa, hilf doch, die Ursachen zu finden.)

Ich kann nichts anderes Sagen. als: Jawohl, die Sachen sind kritikwürdig, und ich finde es nicht richtig, daß man uns nicht sofort darauf mobilisiert hat, daß die Abteilung Kultur beim Zentralkomitee uns nicht eher zusammengerufen hat. Ich glaube, daß über die Sache noch viel gesprochen werden muß.

Ich halte keine Verteidigungsrede. Ich bitte nur darum, daß versucht wird, die Errungenschaften, die wirklich da sind, auch zu sehen und zu erhalten. Ich finde, unsere Aufgabe in der nächsten Zeit ist, daß wir durch gute Bücher und Filme zeigen, daß unsere Gesellschaftsordnung, unsere Weltanschauung es ist, die den Schriftstellern die größten, die tiefsten Einblicke in die Gesellschaft gibt. Damit haben wir schon begonnen, und auf diesem Wege sollten wir weitergehen; das wird am meisten wirken bei uns und anderswo.

Neues Deutschland, So. 19. Dezember 1965
Jahrgang 20 / Ausgabe 348 / Seite 12

- Scan korrigiert -
(http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse)

http://kyf.net/freitag/utb.php?d=14.12.2015

11. Plenum des ZK der SED

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Geschrieben von

Gustlik

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