Welcher durchschnittliche Schriftsteller mit schwachen Kenntnissen der Ökonomie, wie der Autor der nachfolgenden Zeilen, könnte schon sagen, ob in der Bundesrepublik tatsächlich eine klassische Wirtschaftskrise herrscht und wie man politisch aus ihr heraus kommt? Immerhin kenne ich das Land seit einigen Jahrzehnten, und vielleicht helfen bei der Analyse der gegenwärtigen deutschen Krise ein paar persönliche Erfahrungen.
Zu diesen Erfahrungen gehören die Präsenz von Mangel und Übervorteilung. Im neuen deutschen Alltag trifft man auf Phänomene, die in der alten Bundesrepublik kaum denkbar gewesen wären, von der DDR ganz zu schweigen. In Berlin lebende Ungarn erzählen mir Geschichten, wie diese: Einer erhielt von seiner Bank das Angebot, seinen Versicherungsvertrag durchleuchten zu lassen, um festzustellen, ob er nicht zu viel monatliche Gebühren zahlt. Er verlässt das Geldinstitut mit guten Hoffnungen; erst an der Tür merkt er an einem Großplakat, dass die besagte Versicherungsanstalt mit der besagten Bank fusioniert ist. Sie steckt also das Geld aus der einen Tasche in die andere. Oder: Eine Frau kaufte vor einigen Jahren Aktien und als sie sah, dass sie nichts bringen, wollte sie ihre Wertpapiere alle wieder verkaufen. Am nächsten Tag bekam sie einen Anruf mit der höflichen Bitte, weiterhin Aktionär zu bleiben, und sei es mit einer Nullbeteiligung, sozusagen als rein idealistischer Anhänger des Volkskapitalismus. Offensichtlich musste die Firma ihr Plansoll an Klienten retten.
Das Thema lässt sich endlos fortsetzen. Auf den langen Korridoren der Arbeitsämter wird die Erwerbslosigkeit mit Sisyphosarbeit verwaltet, als handelte es sich um einen neuen und hoffnungsvollen Produktionszweig. Die Werbung für die Ich-AG wird - political correctness muss sein - deutsch und türkisch ausgehängt. Gleichzeitig sucht ein Unternehmen gewöhnliche Manager und erfindet dabei den beinahe genialen Locksatz: "Eine dialektfreie Ausdrucksform rundet Ihr Profil ab." Die schleichenden Preiserhöhungen ähneln einem nicht erklärtem Krieg gegen die dünnsten Geldbörsen, das Schlangestehen à la Ostblock bei Lidl zeugt ebenso von Personalabbau wie die Übernahme der Rolle des Kontrolleurs durch Fahrer auf sämtlichen Autobuslinien der Berliner Verkehrsbetriebe BVG - Einstieg nur an der Vordertür. Wenn man sich das Sparen an der Kultur und die drastisch verringerte Zahlungsfähigkeit der kulturellen Institutionen so anschaut, muss man den Eindruck gewinnen, dass uns bald die Kultur selbst erspart bleibt. Die Praxisgebühr macht die Krankheit allmählich zum Luxus.
All dies geschieht unter der Regierung von zwei Parteien, die historisch in der linken Tradition verwurzelt sind. Es wäre ungerecht, die Schwierigkeiten der Normalbürger allein dieser Koalition in die Schuhe schieben zu wollen. Den umstrittenen Reformprozess kann man auch nicht einfach mit sozialen Argumenten ablehnen. Zumal es auch auf Seiten der konservativen Opposition einen Konsens darüber gibt, dass es ohne Rosskur in Deutschland nicht abgehe. Nur weiß oder sagt niemand, wie lange diese dauern und welcher Art von Opfer sie noch fordern wird. Als direkte Reaktion auf diese verzwickte Lage steigen besonders im Osten Parteien wie DVU und NPD auf. Gemessen an ähnlichen Organisationen in Polen, Ungarn oder Rumänien wirken sie beinahe zivilisiert. Dennoch würde ich sie keinesfalls als harmlos bezeichnen. Ihre Gefahr sehe ich darin, dass sie mit der Angst und Ohnmachtsgefühlen operieren, welche wiederum ein Erbe des "realen Sozialismus" sind.
Überhaupt bin ich der Meinung, dass die Bevölkerung der ehemaligen DDR von ihrer Mentalität den Slowaken, Polen und Tschechen bis heute näher steht als den Westdeutschen. Als der bleierne Kanzler - wie soll ich Helmut Kohl von seinem eisernen Vorgänger unterscheiden? - ihnen seinerzeit ein Paradies auf Erden versprochen hatte, glaubten sie diesen Worten, nicht zuletzt, weil sie auf Zukunftsglauben getrimmt waren. Ihre Erwartungen konzentrierten sich nicht auf die freie Marktwirtschaft, sondern auf den Staat, und das Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung verteilte sich für sie automatisch auf Legislaturperioden, die, wie bekannt, in dem "Arbeiter- und Bauernstaat" keine Rolle spielten. Die mechanische Übertragung der westlichen Parteistruktur führte dazu, dass, während das gute Dutzend Neubildungen der Wende allmählich in den großen westlichen Parteien aufging, eine einzige von ihnen, die PDS nämlich, zur Anwältin der ostdeutschen Bevölkerung avancierte. Alle, die sich trotz der in den "Aufbau Ost" investierten Milliarden um etwas betrogen fühlten, scharten sich um diese heterogene Formation, die den Unmut ebenso verschärfte wie kanalisierte.
Oft genug ging auch die Präsentation der materiellen und geistigen Güter des Westens an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei. In der Mitte der neunziger Jahre besuchte ich eine Kleinstadt in der südlichsten Ecke der ehemaligen DDR. Hinter den durch 40 Jahre staatlicher Gleichgültigkeit zerstörten historischen Kulissen begannen die Fassaden von Karstadt, Kaisers und der Deutschen Bank zu entstehen, während die Reinigung noch Rewatex hieß. Anlass meines Auftritts war die Einweihung eines neues Kulturhauses, dem eine ganze Bibliothek aus den Beständen der US-Armee geschenkt wurde. Ich weiß nicht, wie viele Menschen in der Kleinstadt militärische Literatur und Liebesromane im englischen Original lesen konnten, aber bei der Eröffnung erschienen sieben Gäste. In der Gemeinde waren die CDU und die PDS ungefähr gleichmäßig vertreten, die SPD galt wie eine Sekte, von den Grünen hatte dort kaum einer etwas gehört. Die außerparlamentarische Opposition stellten die Skinheads, die vor allem gegen die Vietnamesen kämpften, die wiederum das einzige Element der freien Marktwirtschaft verkörperten.
Insofern bin ich fest davon überzeugt, dass die Krise in den neuen Bundesländern vor allem psychologische Gründe hat. Die Mehrheit der Bevölkerung bestand anno 1990 aus Menschen, die ihr Leben nun in einem anderen Staat fortsetzen mussten als denjenigen, in dem sie bisher gelebt hatten. Dieser andere Staat konnte ihnen sogar besser gefallen als ihre geographische Heimat, forderte jedoch eine völlig neue Sozialisierung ab, die besonders der mittleren und älteren Generation schwer fiel. Damit verschluckte die Bundesrepublik ein enormes Stück osteuropäischer Wirklichkeit und war vor der Aufgabe gestellt, das eigene System auf einem dafür kaum geeigneten Terrain wirkungsvoll durchzusetzen. Kein Wunder, dass sie bis heute mit Verdauungsproblemen zu tun hat. Die klassische "deutsche Frage" ist also beantwortet, aber noch längst nicht gelöst.
Den Bruch mit dem Sozialismus erlebten alle Gesellschaften aus dem ehemaligen sowjetischen Einflussbereich. Zudem sprangen sie nicht in ein bereitgestelltes soziales Netz, sondern einfach ins Dunkel. Das Elend in Ungarn unmittelbar nach der Wende - 1992: 14 Prozent Arbeitslosigkeit und 23 Prozent Inflation - bedeutete einen Riesenschock für die Bevölkerung, obwohl die Volksrepublik in sozialer Hinsicht der DDR eindeutig unterlegen war. Und das war nur die erste "Therapie". Die Öffentlichkeit reagierte ebenfalls an den Wahlurnen, indem sie in vierjährigen Abständen einfach jedes Kabinett ablöste. Ungarn hatte den Systemwechsel erlitten, die Menschen vertrauen und misstrauen zugleich den Parteien, und zwar von rechts bis links, oder wie Ernst Jandl sagen würde, "lechts" und "rinks".
Braucht Deutschland also in dieser kippligen, dieser historischen Situation eine neue linke Partei? Zum einen muss man darauf hinweisen, dass die Entstehung einer derartigen Kraft und der Kraftakt einer Gründung zwei verschiedene Dinge sind. Die Grünen erschienen am Anfang der achtziger Jahre, weil die etablierte Parteistruktur und die Gewerkschaften offensichtlich nicht alle sozialen Interessen abgedeckt hatten. Am Anfang wollte von den Jeans- und Turnschuhträgern niemand hören, heute gestalten sie, besser ausgestattet, die Politik. Allerdings büßen Parteien durch ihren sozialen Aufstieg oft ihre Handlungsfreiheit ein und kommen immer häufiger in Kollision mit den eigenen Grundwerten aus ihrer Anfangszeit. Nichtsdestoweniger gehören sie zu einer imaginären Linken, weil sich ihre Gegner als konservative oder liberale Rechte oder Rechtsmitte definieren.
Durch den Vormarsch der radikalen Rechten scheint nun eine Art Marktlücke zu entstehen. Welche Kräfte können diese, wenn überhaupt, füllen? Eine eventuelle Einigung zwischen PDS, SPD-Linken und Gewerkschaftlern wäre aufgrund der sehr unterschiedlichen Verankerung bestenfalls eine Cohabitation. Gysis Partei ist, vereinfacht gesagt, zu östlich, Lafontaines Anhängerschaft (wenn sie überhaupt als maßgeblicher Faktor in Frage kommt) zu westlich und die Gewerkschaften mit ihrem großen Apparat treten nur gelegentlich explizit politisch in Erscheinung, sie funktionieren doch mehr als pressure group.
Problematischer als die Frage der Organisation und ihrer Bestandteile ist das Ziel einer neuen linken Partei. Zum Sozialismus, zumindest in der Form, wie er in Mitteleuropa existierte, führt kein Weg zurück, obwohl seine Utopie und Kultur bei weitem nicht erschöpft ist. Eine Möglichkeit für eine solche Formation wäre, sich als Gegenstück zu den neuen Rechten zu begreifen, was jedoch ein zu dünnes und - aufgrund der Erfahrungen mit Weimar - zweifelhaftes Programm wäre. Populismus mit Populismus bekämpfen, hieße den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen.
Wenn Deutschland heute eine neue politische Kraft braucht, dann würde ich als Gegenteil von rechts nicht den linken sondern den demokratischen Charakter dieser Neubildung akzentuieren. Wenn man dem Weimarer Modell folgt, befürworte ich also keine neue USPD, SAP, KPD oder andere, sondern eher so etwas, wie es seinerzeit Max Webers und Friedrich Naumanns Deutsche Demokratische Partei, die DDP, war, die vielleicht konsequenteste Anhängerin der parlamentarischen Ordnung der Weimarer Verfassung - allerdings für die heutigen Herausforderungen gewappnet. Eine kleine Partei, die das Reformprogramm mit einer machbaren und konsequenten Sozialpolitik verbindet, weder in Wahlperioden noch in Ost-West denkt und die Interessen der kleinen Leute vertritt, ohne sich der Anhängerschaft mit falschen Versprechungen anzubiedern, die sie als regierende Kraft dann doch nicht halten kann. Sie sollte weder eine elitäre noch eine Volkspartei, sondern eine zuverlässige, eine interessante Partei der zivilen Gesellschaft sein. Freilich bräuchte Deutschland keine derartige Kraft, wenn eine von den etablierten Parteien bereit wäre, diese Rolle glaubhaft zu übernehmen.
György Dalos, geboren 1943 in Budapest, lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm 2002 der Roman Seilschaften und 2004 das Sachbuch Ungarn in der Nussschale.
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