Die Tradition des Andersdenkens

Ketzer In "Die politische Sprengkraft der Physik" erinnert Christian Sachse an Robert Havemann

Ich lese ein Buch, das bei einem kleinen Verlag in denkbar bescheidener Auflage veröffentlicht wurde. Es handelt sich um die Monographie von Christian Sachse Die politische Sprengkraft der Physik, in dem er Robert Havemanns (1910-1982) gedenkt. Dem namhaften Physiker und Chemiker wurde internationale Aufmerksamkeit zuteil, als er Anfang der sechziger Jahre, bereits als Bürger der DDR, versucht hatte, die lustlose Dogmatik der offiziellen Philosophie in die Argumentations- und Denkweise der modernen Naturwissenschaft aufzulösen, wohl ahnend, dass er so die Legitimation der Politbürogrößen in Frage stellte.

Zunächst versuchte er aufgrund seiner guten Beziehungen in- und außerhalb des Staates das System sozusagen zu veredeln, als er jedoch daraufhin aus der Partei ausgeschlossen und seines Lehrstuhls beraubt worden war, begann er, ähnlich wie seine sowjetischen Kollegen, der Atomphysiker Andrej Sacharow oder der Biologe Schores Medwedjew, sich ganz der Kritik der Diktatur zu widmen. Besonders mit dem Beginn seines lebenslänglichen Hausarrestes verwandelte er sich zur emblematischen Persönlichkeit der eben entstehenden Bürgerbewegung und gleichzeitig zum Objekt der Begierde der bundesrepublikanischen Medien.

Christian Sachse fokussiert seine Recherche auf die Vorphase des Dissenses, wobei die Typologie der frühen Widersacher des Systems zweifelsohne am interessantesten erscheint. Dass unter denjenigen, welche die Verhältnisse in den sozialistischen Staaten reinen Herzens lebbarer gestalten wollten, die humanitären Intellektuellen eine herausragende Rolle spielten, hing einerseits mit der Tatsache zusammen, dass außer den Funktionären nur diese über eine begrenzte Öffentlichkeit verfügten. Andererseits waren Autoren wie Solschenizyn, Biermann oder Havel durch die Zensur per definitionem bedroht. Hingegen konnten Wissenschaftler, besonders von einem höheren Prominenzgrad in den sechziger Jahren theoretisch die Stille ihrer Laboratorien genießen. Und doch erwies es sich für manche von ihnen leichter, einen Disput mit den Mächtigen anzufangen, als diesen abzuschließen.

Vielleicht war Friedrich Dürrenmatt mehr als andere daran mitschuldig, dass ausgerechnet Die Physiker als Träger des intellektuellen Gewissens auftreten konnten, aber nicht nur er: Im "Friedenskampf" galten Persönlichkeiten wie Albert Einstein, John Bernal, Nils Bohr oder Fréderic Joliot-Curie als natürliche politische Verbündete des Ostblocks, während sie rein weltanschaulich mitunter als "Idealisten" behandelt wurden. Gleichzeitig bildeten Raketenkonstrukteure und Nukleartechniker wie Korolew oder Landau eine Schattenelite. Die sibirische Schaltstelle Akademgorodok befand sich im Bau und der erste öffentliche Diskurs in der Sowjetunion des "Tauwetters", der diesen Namen verdiente, hieß "Physiker und Lyriker".

Sachse schildert mit eindrucksvoller Akribie, wie die Logik der positiven Wissenschaften und der beinahe als Staatsreligion geltende "wissenschaftliche Sozialismus" in Konflikt gerieten. Das methodische Zweifeln der Ersteren konnte schwerlich bei der klerikalen Auffassung Halt machen. Der Biochemiker Kurt Mothes bot 1958 den höchsten Führern der SED die Stirn, als er in ihrer Anwesenheit erklärte: "Wir stellen nicht nur das Bild der Schöpfung in Frage, sondern auch die These von Engels, dass die Welt unendlich ist. Ich weiß nicht, ob sie unendlich oder endlich ist. Ich bin kein Physiker." Er verschwieg auch seine Meinung über die Praxis nicht, dass die Partei- und Staatsführung den wissenschaftlichen Streit häufig mit "administrativen Lösungen" beendete. So wurden Kollegen, die vor der Bevormundung in den Westen geflüchtet waren, um ihren akademischen Titel gebracht. Mothes fand hierfür Worte, die jedem gewöhnlichen Sterblichen Kopf und Kragen gekostet hätten: "Karl Liebknecht ist ins Gefängnis geschickt worden, man hat ihm den Doktorgrad nicht aberkannt."

Auf der banalen Ebene bezog man sich etwa auf hilflose Behauptungen, wie zum Beispiel darauf, dass weder die Fotogeräte der ersten Sputniks noch Juri Gagarin im Weltall auf Gott gestoßen wären - was dessen Nichtexistenz zweifelsfrei beweisen sollte - eine Kampagne, an der noch Havemann selbst beteiligt war. Solcherart "Argumente" ähnelten der Relativitätstheorie im Alltagsgebrauch: "Drei Haare in der Suppe sind zu viel, an einem Kopf zu wenig" - verkündete der Volksmund und angesichts des Äußeren von Nikita Chruschtschow schien es besser, diese These nicht zu dementieren.

Die Monopolisten der absoluten Wahrheiten hatten es also mit reiner Häresie zu tun gehabt, verfügten in der Auseinandersetzung damit aber als Stützen bestenfalls über Werke von Engels oder Lenin wie Die Dialektik der Natur oder Materialismus und Empiriokritizismus - wenn sie diese überhaupt gelesen hatten. Einige Jahre früher noch waren sie ihrer Sache bewusst gewesen und hatten "bürgerlich" verfemte Disziplinen, unter anderem Kybernetik und Genetik, aus den Universitäten verbannt. Nebenbei sprachen sie einen Galileo Galilei oder Giordano Bruno aufgrund dessen Widerstands gegen die kirchliche "Wissenschaftspolitik" fast heilig und betrachteten den katholischen Philosophen Thomas Morus als Vorläufer der sozialistischen Arbeiterbewegung. Daher musste die Ideologische Kommission des ZK aufpassen, nicht allzu spektakulär in die Rolle der Inquisition zu fallen. Wenn diese Funktionäre es jedoch erlaubt hätten, mit der Quantenmechanik, der Humangenetik oder der Psycholinguistik die einzig richtige Lehre in Frage zu stellen, dann konnten sie dieselbe Freiheit den Künstlern schwerlich verweigern, oder sie - horribile dictu! - den Normalbürgern vorenthalten.

Als Robert Havemann auf einem Leipziger Kongress im Frühjahr 1962 die wissenschaftliche Brauchbarkeit des dialektischen Materialismus in Frage stellte, musste er wissen, dass er mit dem Feuer spielte. Schließlich war es kaum ein Jahr her, dass Ernst Bloch mit seinem lupenreinen Marxismus der DDR nach langen Gängeleien den Rücken gekehrt hatte, um in Tübingen eine ideologische Marktlücke zu füllen. Havemann wusste aber sicher nicht, dass er durch seine Vorträge nicht nur seinen eigenen Konflikt mit dem System, sondern auch eine Tradition begründete - die des Andersdenkens, die in den darauf folgenden Jahrzehnten nie mehr aus der kleinen DDR-Welt geschafft werden konnte.

Ausgerechnet an diesem Punkt sticht sich in die Lektüre von Sachses Buch ein melancholisches Gefühl hinein: Aus heutiger Sicht - und dies wird aus der respektvollen Analyse Sachses klar - erscheinen die damals atemberaubend mutigen Denkanstöße "selbstverständlich und daher trivial". Klar, kein Parteibeschluss kann Richtlinien für die Naturwissenschaft festlegen, klar, die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Allerdings schien das zusammengebrochene Regime auch die Kritik seiner Unfehlbarkeit unter sich begraben zu haben, und die Erben konnten mit dem durch Sisyphusarbeit zusammengetragenen Nachlass recht wenig anfangen. Der von der Dialektik ohne Dogma träumende Havemann oder der Autor eines kommunistischen Gegenprojektes Rudolph Bahro verstanden, ähnlich wie so viele wohlmeinende Systemkritiker, unter ihrem damaligen Morgenbild sicher nicht das von heute. Vielleicht ist das eben das gemeinsame mit früheren Abweichlern und Ketzern, den Arianern, den Hussiten oder den Albigensern, die Nikolaus Lenau in seinem Poem verewigt hatte:

Wofür sie muthig alle Waffen schwangen, Und singend in die Todesfeuer sprangen, Was war das? Trotzte hier ein klarer Blick Ins Herz der Freiheit jedem Missgeschick? War´s Liebe für die heilige, erkannte, Die heißer als die Scheiterhaufen brannte? War´s von der Freiheit nur ein dunkles Ahnen, Dem sie gefolgt auf allen Schreckensbahnen?

Christian Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik. Robert Havemann zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Sozialismus 1956-1962. Hrsg.: Prof. Dr. Manfred Wilke. LIT-Verlag, Berlin 2005, 208 S., 19,90 EUR


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