Ein neues Jahr

Eine Zwischenbilanz Persönliche Gedanken zum neuen Jahr, Rück- und Ausblicke. Ein Spaziergang an der Seite von etwas Melancholie und Zufriedenheit, begleitet von Katze und Schafen.

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... ist nun da. 2013, wie sich das anhört! Es gab Zeiten, da erschien mir die „2“ vor der Jahreszahl weit weg, in einer nicht vorstellbaren Zukunft gelegen. Ich weiß noch, wie ich zu meinem Großvater sagte, 2000 wäre ich 47 - da mochte ich zwischen 12 und 14 gewesen sein - und ich vermochte mir weder unter der „2000“ noch unter den 47 Jahren etwas vorzustellen. Er erwiderte nur :“ Dann lebe ich nicht mehr.“ Der Satz schmerzte, weil ich wusste, dass er stimmte, sich bewahrheiten würde und weil ich nicht wollte, dass er sich als wahr erweisen würde.

Jetzt bin ich 60, also etwa so alt wie mein Großvater zur Zeit des Gesprächs. Der Blick zurück ist länger als der Ausblick nach vorn. Mehr Vergangenheit als Zukunft! Im Geiste höre ich immer wieder mal den Refrain eines alten Chansons: „Dann kommt der große Abschied von der Zeit, war sie auch noch so schön.“ War sie das? Wie immer im Leben war‘s auch bei mir ein Gemischtwarenladen. Das Aufwachsen an der ostfriesischen Nordseeküste, der weite Himmel dort, die wegen des Asthmas (ein Geburtsgeschenk) notwendig gewordenen Kuraufenthalte auf den vorgelagerten Inseln, die geliebten und während der Pubertät leider gepiesackten Großeltern, die schon sehr früh einsetzende unbändige Leselust - dieses alles und noch mehr hat sich auf meiner Festplatte eingebrannt.

Der notwendig gewordene Umgang mit der chronischen Krankheit wurde normal und ist doch bisweilen strapaziös. Mittlerweile sind genetisch bedingte Zystennieren und seit 6 Jahren die Peritionaldialyse und das Warten auf eine neue Niere dazu gekommen. Man kann sich daran gewöhnen und sich seines Lebens erfreuen. Einer meiner Nephrologen sagte mir zu Beginn der CAPD:“ Tun Sie so, als hätten Sie die Krankheit nicht, ohne sie zu verdrängen.“ Das gelingt mir zum Glück und wer weiß warum sehr oft.

In den Gemischtwarenladen gehört auch der mit 16 gegen meinen Willen erzwungene Umzug zu meinen Eltern ins Ruhrgebiet. Auch noch nach ins damals noch stark russgeschwängerte Gelsenkirchen. Ich wollte sie nicht, konnte sie nicht leiden, ihr Stil war so ganz anders - härter, strenger, emotionsloser als der der Großeltern. Der Bruder war mir fremd. Heute haben wir uns angenähert, erst recht, seit auch er seine Dialyse in Berlin macht und wie ich wartet.

Es kam das Studium. Erziehungswissenschaft (mehr ein Kompromiß als Begeisterung), ein befristeter und unbefriedigender Job an der Uni, ABM-Stellen, eine Therapieausbildung und zwei Jahrzehnte Arbeit unter und mit chronischen Alkoholabhängigen. Mein Traumberuf war und ist ein anderer: Journalist. „König“ der Reportagen wollte ich werden. Aber meine journalistischen Ausflüge zu Zeitungen und zum Hörfunk blieben Ausflüge, ich war ungeduldig, nicht ernsthaft genug dabei und manchmal auch pikiert, wenn etwas nicht ganz so erschien, wie es der junge Spund verfasst hatte. Sehr viel früher stellte ich mir auch ein Leben als engagierter Lehrer oder Kleinstadtpfarrer vor (ich war in meiner Jugend mit einem befreundet).Jetzt, nach etwas mehr als zwei Jahren EM-Rente bilanziere ich: Vieles in der klinischen Arbeit war spannend, erkenntnisreich, menschlich berührend, aber ebenso gab es auch viel Nerviges: endlose, oft unfruchtbare Teamsitzungen, neben tollen und netten auch nervige Kollegen, nervige Patienten, Arbeitsverdichtung . So sage ich nunmehr: vorbei (so die Rentenversicherung nach Ablauf der Befristung nicht den Daumen senkt).

Und wieder lebe ich auf dem Land, nach Jahrzehnten in diversen Großstädten, als schlösse sich ein Kreis. Ich sehe aus unseren Fenstern und erblicke weites grünes Land, sehe den Damm vom Regenrückhaltebecken und fühle mich an meine Deiche von ehedem erinnert. In der Ferne erheben sich silhouettenhaft die Hügelketten der Eifel. Tiere kommen vorbei, unsere Katze, 20 Jahre alt, erfreut uns glücklicherweise immer noch. Die Bücherregale platzen aus allen Nähten. Immer wieder mal greife ich zu einem alten, schon gelesenen Buch, will erleben, wie es bei der zweiten oder dritten Lektüre auf mich wirkt.

Schlendere ich durch die Landschaft oder blicke ich aus dem Fenster und habe einen Tag ohne allzu große Wehwehchen, verspüre ich so etwas wie inneres Glück, eine tiefe Zufriedenheit. Im Hinterfeld lauert oft die Melancholie und hält ihr Hinweisschild „60“ hoch.

Man müsste noch sooo viel lesen, sooo viel sehen, an sooo vielen Debatten - auch hier im „Freitag“ - teilnehmen, Gespräche führen, neue gute Weine verkosten, vielleicht sogar den Traum von einer Skandinavientour realisieren, wenn denn die neue Niere da ist und sie brav bleibt.

Ach, man fühlt sich (meistens) nicht wie 60 und ist es doch. Und denkt wie die alten Leut‘ zu allen Zeiten über Gewesene(s) nach. Man ist, wenigstens teilweise, geworden wie die alten Leut‘. Na und? Irgendwann sagte jemand den banalen, aber wahren Satz: „Die Momente sind es, die zählen.“ Recht hat er.

Der erste Tag des neuen Jahres bietet mir einen Regenhimmel. Aber milde Temperaturen. Fremde Schafe und Ziegen weiden auf dem Acker neben dem Haus und freuen sich über unsere Zuwendungen. Ich höre, während ich dies schreibe, ein Violin/Klavierkonzert und denke mir: Der Ärger über die Steinbrücks, Merkel, US-Repuplikaner dieser Welt ist nötig und wichtig und wird bei mir nie verschwinden, aber er ist nicht alles und nicht immer wichtig(er). Jetzt gerade ist‘s schön!

Euch allen hier ein gutes, ein schönes Jahr mit mehr Zufriedenheit als Unzufriedenheit!

Es grüßt

Helmut Hesse

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

H.Hesse

"Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen." Pablo Picasso

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