(Meine) Leselust

Wie alles begann Jede/r hat seine (Lese-)Geschichte. Ein paar Worte zu meiner, in der sich der eine oder die andere viell. auch finden mag.

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„Was hat mich zum Lesen gebracht? Das neugierige Verlangen, in fremde Welten einzutauchen, ziemlich wahllos war ich büchersüchtig.“ Gabriele Wohmann

„Es gibt Bücher, die dich unterhalten. Und es gibt Bücher, die dich zweifeln machen, sie geben dir Hoffnung, sie erweitern die Welt und machen dich mit Abgründen bekannt. Auf diese Bücher kommt es an.“ Jàn Kalman

(Meine) Leselust

Wir hatten in den Dezemberwochen an dieser Stelle unseren Bücherkalender, in dem ein paar von uns ihre alten oder neuen Lieblingsbücher vorgestellt haben. Das Ende der Aktion war für mich, wieder einmal, der Anlass, über meine Leseerfahrungen nachzugrübeln; darüber, wie alles begann, wem ich meinen bis heute anhaltenden Lesehunger zu verdanken habe und was Bücher mir bedeuten.

Lesehungrig und doch fast nie satt zu sein, weil kaum das eins ausgelesen, das nächste Buch in der Hand liegen muss. Ist das nicht komisch? Ich kenne Menschen, die darüber verwundert, vielleicht auch ein wenig spöttisch lächeln. So hat halt jeder seine eigene Geschichte, die auch offenbart, worüber einer spöttelt und lächelt. In unserem Haus stehen einige tausend Bücher, in jedem Zimmer finden sich prall gefüllte Regale. Von Zeit zu Zeit sortieren wir aus, verschenken Bücher, von denen wir uns trennen können, weil andernfalls ein Anbau fällig wäre.

Im Haus meiner Großeltern -ich bin bei ihnen aufgewachsen - gab es wenige Bücher, aber dafür eine Atmosphäre des Erzählens, des Miteinandersprechens. Weltbegegnungen im Kleinen, bei Spaziergängen durch die reizvoll-karge Umgebung unseres küstennahen ostfriesischen Städtchens.

Ich lauschte den Worten meines Großvaters, wenn er von früher, von seiner Geschichte berichtete, wenn er mir jeden Baum, jedes Blatt erklärte oder vormachte, wie man mit einem Blatt vor dem Mund pfeifen kann... Oder dachte darüber nach, ob andernorts im All Leben existiere. Alles Fragen und Themen, die sich in mir zu einem austreibenden Saatgut entwickelten und so etwas wie eine Lebensneugier haben entstehen lassen. Da war es kein grosser Schritt bis zur Anmeldung in unserer kleinen, aber recht feinen Stadtbibliothek, die abends mein Grundschulklassenlehrer mit seiner Frau ehrenamtlich betrieb. Ich lieh alles Mögliche aus: Bücher über Astronomie, Karl May, Bücher übers Meer, Max Frisch... Ich tauchte in fremde Welten ein, spürte, wie meine Phantasie leben konnte. Ab und an wurde ich noch von meiner jüngsten Tante, die eine Weile bei uns wohnte, bevor sie der Mann ihres Lebens hinüber in sein Leben holte, mit Lesetipps versorgt. Sie brachte mir auch bei, wie man richtig und formvollendet einen Brief aufsetzt.

Meine Leselust und Leseabenteuer erwiesen sich auch als Hilfestellung bei der Bewältigung meines kindlichen und später jugendlichen Alltags, der immer wieder von mehr oder weniger heftigen asthmatischen Intermezzi geprägt wurde. Das Asthma war ein Geburtsgeschenk und bis in die späte Jugendzeit ein tausendmal verfluchter unerwünschter, aber hartnäckiger Begleiter, der mich immer wieder mal ins Krankenhaus brachte oder mir einen mehrwöchigen Kuraufenthalt auf einer der ostfriesischen Inseln bescherte. Ein Begleiter, der mir auch den einen oder anderen depressiven Gedanken bescherte und mich von manchem ausschloss. Das heißt, ich schloss mich teilweise selbst aus, etwa vom Sportunterricht, was man einem Kind heute wohl nicht mehr durchgehen lassen würde. Aber ich wollte nicht der Schwächste in der Riege sein und so sah ich nur zu oder harkte nach den Sprüngen die Sandgrube wieder fein, maß die Zeiten meiner Mitschüler etc.

Und immer wieder ging es zurück zu den Büchern.Weltflucht und Weltenentdeckung in einem! Immer wenn ich meine ein, zwei festen Freunde -in einer Clique war ich zu meinem Bedauern nie - nicht traf, verzog ich mich in mein Zimmer und las. Zumindest hat es meine Erinnerung so abgespeichert. Ein Wort noch zu den Cliquen:Ich bedauerte es, keiner anzugehören und mochte sie zu gleich nicht, was bis heute so ist. Aber wenige Freunde zu haben, war auch nicht toll, musste man somit viel freie Zeit mit sich allein verbringen. Wenn ich meine Nase nicht in den Büchern stecken hatte, lief und radelte ich durch die Gegend, oft bis zum cirka 15 Kilometer entfernten Meer oder in die nächste Kleinstadt, Jever. Da gab es auch zu der Zeit mindestens einen Buchladen, der besser sortiert war als der in unserem Städtchen.

Ich konnte mich selbst in simple Abenteuergeschichten wie denen des Karl May oder denen der „Texas Ranger“ verlieren. Was heißt hier „selbst“, gerade sie ließen es in mir bunt und lebendig werden. Sogar ein Micky-Maus-Heft mit seinen damals noch schöneren Zeichnungen konnte durchaus anregend auf meine Phantasie wirken, das sei allen Kulturpessimissten oder den Freunden des „Wahren, Schönen“ gesagt. Solange man dabei nicht stehenbleibt, geht das völlig in Ordnung. Es ist Quatsch zu behaupten, die Lektüre solcher „Machwerke“ verhindere den Zugang zu „Höherem“. Ich las und mochte beides. Auf die Anregungen kommt es an, die man erhält und darauf, dass man ihnen folgt. Und die muss ich wohl zur Genüge bekommen haben, jedenfalls so viele, dass ich schon früh allein loszog, das weite Feld der Literatur, die Welt der Bücher zu erkunden. Hinzu kam, dass ich es schon als Kind sehr angenehm fand, ein (schönes) Buch in den Händen zu halten, das Papier zu fühlen, den Geruch zu erschnuppern.

An einige der Bücher aus meinen Kinderjahren erinnere ich mich noch gut, sehe sie vor mir: etwa den mit einem schönen braunen Leinenumschlag versehenen Wilhelm-Busch-Band, den es zu Weihnachten gab, an das großformatige Astronomiebuch von Rudolf Kühn, „Die Himmel erzählen“, das heute noch bei mir steht.

Die Lektüren eröffneten mir neue, fremde Welten und machten mir dadurch meine eigene etwas schöner, ja auch erträglicher und sie sorgen bis heute für Nachschub an einem wichtigen Grundstoff: Sehnsucht! Dass Leben in verschiedenen Bahnen verlaufen und anders als das im unmittelbaren Umfeld Gesehene aussehen kann, zeigten mir meine Bücher. Und manchmal ließen sie mich träumen, weg-träumen: So war der kleine Wald hinter unserem Haus für mich dann „Afrika“. Aber auch die Gespräche über das Gelesene machten mir Spaß und erlebte ich oft als Bereicherung meiner Gedanken- und Phantasiewelt.

Ich lernte einen jungen Pfarrer kennen, der mit seiner (evangelischen) Amtskirche haderte, was ihn mir sympathisch machte. Nach einer Konfirmandenunterrichtsstunde sprach ich ihn an und erhielt eine Einladung, „auf einen Tee“ vorbeizukommen. Wir saßen in seinem schönen im skandinavisch anmutenden Stil erbauten Bungalow, der am damaligen Ortsrand stand und von dem aus man weit ins Land, bis zum etwas entfernteren Wald sehen konnte. Bei Tee und W.‘s Pfeifenduft erzählte er mir von seinen Leseerfahrungen, legte er mir nach und nach seine Weltsicht dar. Vieles verstand ich zunächst nicht, manche Namen waren mir unbekannt, aber ich merkte sie mir gierig: Biermann, Degenhardt, Grass, „Frankfurter Rundschau“. Mit diesen Erzeugnissen versah ich mich bald darauf und versuchte sie zu verstehen, was mit ca. 14 nicht immer ganz einfach war. So wurden meine Gedankenkreise mehr und weitläufiger, Horizonte verschoben sich. An die vielen Besuche in W,‘s Pfarrbungalow , an die Atmosphäre des Bücherzimmers, an seine Pfeife, seinen schwarzen Rollkragenpullover (wirklich!), an den Blick durchs Fenster in die Weite der grünen ostfriesischen Landschaft, an seine sonore Stimme erinnere ich mich noch heute gerne und so, als hätte das alles vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden. Interessanterweise war W. bei den älteren Erwachsenen mehrheitlich nicht beliebt, ihnen war er „zu links“, was in den mittleren 60ern in unserer kleinen „schwarzen“ Stadt natürlich ein Unding war. Was gab es für ein Gepolter, als er einmal einen linken Schriftsteller aus dem Ruhrgebiet zu uns einlud!

Natürlich ging ich früh von mir aus auf die Literaturjagd, aber rückblickend muss ich feststellen, dass ich fündig geworden war, weil mir jemand eingeschärft hatte: den oder das musst du unbedingt mal lesen! So lernte ich - etwa durch Menschen wie W. - Autoren und Themen kennen, auf die ich sonst vielleicht nicht oder erst viel später gestoßen wäre. Nikos Kazentzakis ist ein solchermaßen von mir entdeckter Schriftsteller. Ein Freund aus Gelsenkirchen - dorthin war ich zu meinem Bedauern mit 16 gezogen - schleppte mich eines Tages in eine evangelische Freizeitstätte. Dort sahen wir den 1965 0der 1966 gedrehten „Alexis Sorbas“, der zum Kultfilm einer Generation avancieren sollte und den u.a. die Musik von Mikis Theodorakis weltberühmt machte. Dieser Schwarzweißfilm - und kurz danach der zugrundeliegende gleichnamige Roman - wurde für mich zu einer Art Erweckuungserlebnis. Bis zu meinem 30. Lebensjahr hatte ich bestimmt 20 oder noch mehrmals gesehen. Nach dem Besuch kaufte ich mir den Roman und ward von ihm gefangen. Die Melancholie des Schriftstellers, seine Sinnsuche, aber auch die im besten Wortsinn naive, unbändige Sorbasche Lebenslust faszinierte mich gleichermaßen. Es ging mir danach besser und schlechter zugleich. Besser, weil ich mich identifizieren konnte. Nicht ich verstand den Film, der Film verstand mich, so fühlte ich es. Schlechter erging es mir, weil meine unerfüllten Sehnsüchte nach Leben, Liebe, Flucht von den Eltern nur noch mehr brannte und schmerzte. Ich las dann alle anderen erhältlichen Kazantzakis-Romane, aber keiner fesselte mich so sehr wie der „Sorbas“. Bis diese Phase eines Tages vorbei war.

Fast zeitgleich begann meine Hermann-Hesse-Phase. Richtig angetan hatten es mir aber nur der „Steppenwolf“, der „Demian“ und die Maler-Geschichte „Klingsors letzter Sommer“. DIe „Schwülstigkeit“ mancher Formulierung war mir schon damals fremd, aber dessen ungeachtet sog ich aus den Büchern heraus, was ich meinte darin zu finden: den Hunger nach Leben - Sehnsucht eben. Das Leiden in und an der Welt.

Parallel dazu las und hörte ich immer auch Politisches im weitesten Sinne: Degenhardt, Theodorakis (bei dem das immer auch sehr poetisch klang), Bücher des Wagenbach- und damaligen Rotbuch-Verlages, die rororo-aktuell-Reihen und die berühmten bunten Suhrkamp-Bände. Zu der Zeit gab es eine Unmenge an linken, emanzipatorischen Buchreihen. Davon las ich, was immer mich neugierig machte, wenngleich mein Herz schwerpunktmäßig - bis heute - der Belletristik gehört(e). Übrigens sehr zum Ärger meiner Mutter, die in meinen rasch anwachsenden Bücherbergen nur einen Staubfänger sah.

Mitunter bekam ich die die beiden Welten nicht zusammen: die politische und die sehnsüchtige, melancholische, weltschmerzgeplagte, von spätpubertären Nöten geprägte Existenz. So kam es, dass ich etwa Hannes Waders „Unterwegs nach Süden“ oder „Manche Stadt und manch‘ ein Land“ inzwischen häufiger als meinen Degenhardt hörte.

Eines Tages lernte ich jemanden kennen, der vielleicht zwei, drei Jahre älter war als ich und Lehrling „unter Tage“ war. Er wohnte in einer Unterkunft für junge Bergleute. In seinem kleinen, sehr spartanischen Zimmer hatte er auf dem Schrank einen verhutzelten Koffer liegen, dessen Inhalt er mit stolz präsentierte: Bücher über Bücher, zumeist Taschenbuchausgaben, erkennbar wie der Koffer abgewetzt, vielfach gelesen und bearbeitet. Darunter waren viele französische und russische Werke. Voila, ich lernte Sartre, Camus, Beauvoir, die großen Russen kennen, die allesamt im Schulunterricht wenig oder gar nicht auftauchten. Ich erzählte meinem Vater - ebenfalls im Bergbau als Ingenieur tätig - von diesem jungen und für mein Gefühl atypischen Bergmann. Sein knapper Kommentar: „Spinner.“ Damit vergrößerte er nur die ohnehin bestehende Kluft zwischen uns. Und wieder wurde das Lesen für mich zu Momenten des Rückzuges, der Abkehr vom damals nicht gemochten Elternhaus. Den Wegzug von den Großeltern hatte ich nicht gewollt. Also flüchtete ich auf meine Leseinseln.

Weiterhin las ich, was ich kriegen konnte und der Geldbeutel ermöglichte. Ich hatte eine inhabergeführte Lieblingsbuchhandlung, der man die Liebe zu den Büchern anmerkte. Manche Stunde verbrachte ich dann mit den Neuerwerbungen im Stammcafé, oftmals mit einem Stift in der Hand. Ab und an gesellte sich der eine oder andere Bekannte dazu und schon gab es meist interessante Gespräche. Solche Momente schätzte ich, sie wurden durchaus zu einem Lebensgefühl.

Die Schule hat wenig für meine Leselust getan. Den Großteil des Deutschunterrichts fand ich langweilig und so trocken wie einen Ausflug in die Sahara. Lediglich eine kurz vor ihrer Pensionierung stehende Deutsch- und Geschichtslehrerin, die einen sehr hohen Anspruch und ein lebendiges Wissen verkörperte, das ich nur bewundern konnte, lediglich sie begeisterte mich. Diese kleine, äußerlich fast unscheinbare Person besaß drei Doktortitel, sprach ein halbes Dutzend Sprachen fließend, ein weiteres halbes Dutzend immerhin noch passabel. Sie war die große Ausnahme!

Den Zugang zu den Klassikern fand ich auch großteils erst nach der Schulzeit. Dazu maßgeblich beigetragen hatten meine zahlreichen Besuche in den frühen 80ern im Schauspielhaus Bochum. Das waren die großartigen Peymann-Jahre dort. Wenn man Glück hatte, konnte man mit seiner 5.-Mark-Studentenkarte sogar in der ersten Reihe sitzen! ich erlebte so großartige Schauspieler wie Kirsten Dene, Gerd Voss und all‘ die anderen aus dem damaligen Peymann-Ensemble. Für wenig Geld konnte man im Schauspielhaus die gut gemachten Textbücher kaufen. So kam ich mit Verspätung zu meiner Klassiker-Bibliothek.

Und heute? Die Leselust hat nie nachgelassen. Allerdings lese ich heute zu 90% Belletristik und nur sehr wenige Sachbücher, die wenigen dann aber mit großer Aufmerksamkeit. Inzwischen nicht mehr im Berufsleben und krankheitsbedingt oft daheim, lese ich sogar mehr denn je. Immer noch freibeuterisch: Was mir auffällt und die Kasse hergibt, wird gekauft. Eher selten sind es Rezensionen, denen ich folge, die sind für meinen Geschmack oft in einem eher abtörnenden Stil geschrieben oder sie sollen nur die Feuilletonisten der anderen Blätter beeindrucken. Dann ist da schon eher Mundpropaganda oder die Empfehlung meiner Brühler Buchhändlerin willkommen und meistens gewinnbringend.

Momentweise bedaure ich es, das mehr Lebenszeit hinter als vor mir liegt und ich vieles werde nicht mehr lesen können. Gerne würde ich auch eine beträchtliche Anzahl von Büchern erneut lesen, was dann aber die Zeit für neue minimieren würde, so dass ich das nur hin und wieder mache. Und dann sind da ja noch die anderen elementaren Beschäftigungen, die mit der Liebsten, mit der Katze, die Spaziergänge... Aber die längste Konstante in meinem Leben sind die Bücher, ist die Literatur. Sie war und ist Rückzugsort von der Welt und ist zugleich der Schlüssel zum Eintritt in die Welt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

H.Hesse

"Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen." Pablo Picasso

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