Vom Erinnern mit Herrn Paul

Keine Versöhnung Was hat der Vater während der Massenexekution in der "Kiesgrubennacht" gemacht? Dieser Frage geht der Comic-Zeichner Volker Reiche in seinem neuen Buch nach.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Volker Reiche, Kiesgrubennacht: Vom Erinnern mit Herrn Paul

Es geschieht nicht oft, dass ich zugunsten eines neuen Buches alle anderen Lektüren unterbreche und das neue Werk an einem Tag lese. Dieses hier habe ich nachgerade verschlungen, ich bin darin eingetaucht. Und das kann man, eintauchen in die Bilder, Seite für Seite.Denn „Kiesgrubennacht“ ist eine Graphic Novel, also ein mit Bildern und Worten erzählender Roman. Ein Genre, das langsam bekannter wird, auch wenn „die“ Literaturkritik es noch weitgehend links liegen zu lassen scheint.

Volker Reiches Name sagt wahrscheinlich nicht jedem etwas, aber vielleicht macht es „klick“, wenn ich erwähne, dass er der Vater von „Strizz“ ist, jener genialen Angestelltenfigur, an deren Leben er uns in der „FAZ“ mehrere Jahre hat teilnehmen lassen. Für diese Serie hat er einige Preise bekommen. Nun also kein kurzes Episodenwerk, sondern 230 Seiten, die sich einzig mit seinem Leben beschäftigen. Wir verfolgen Seite für Seite Reiches Autobiographie, beginnend 1948, endend im Frühjahr 2013.

Reiche breitet vor uns das Panorama einer Nachkriegskindheit aus: Die Flüchtlingsfamilie ist auf dem Land bescheiden, aber sicher untergekommen. Die Familie: die Mutter, Ärztin, die drei oder vier Patienten behandelt und bemüht ist, die Kinder gut über die Runden zu bringen. Der Vater war Kriegsberichterstatter im Nazisold und ist ein, gelinde gesagt, autoritärer, ja despotischer Knochen, der mit buchstäblicher Gewalt, vor allem gegen seine Frau, re(a)giert. Die väterlichen Gewaltszenen erlebt der Betrachter, wie die Kinder damals, eher am Rande. Plötzlich bricht es aus dem Vater heraus, dann ist er oft auch schon wieder weg. Reiche: „Der Vater war weg, die Mutter hat sich das Blut von der Nase gewischt. Feierabend. Jetzt schnell was basteln, zeichnen, raus rennen, Versteck spielen - und der Schrecken ist erst einmal wieder vorbei.“ Und zum Glück ist der Vater selten zuhause.

Der junge Volker Reiche findet Zuflucht in Büchern, er beginnt schon früh mit dem Zeichnen und Malen, erschafft sich damit eine Gegenwelt. In der realen Familienwelt versucht die Mutter, die Familie, das heißt sich und die Kinder, zusammenzuhalten. Reiche sagt später im Buch, sie habe alle Kinder bis zum Abitur gebracht. Irgendwann waren ihre Kräfte dann aufgezerrt und ihr Alkoholismus siegte. Sie war während der Nazi-Jahre Gauleiterin im „Bund deutscher Mädels“, wovon dann aber nichts mehr zu merken ist, wohingegen der Vater der stramme autoritäre und die Nazizeit verherrlichende Mensch geblieben ist.

Vier Kinder sind sie, von ganz klein bis vielleicht zehn, als die Erzählung beginnt. Sie fängt idyllisch an mit Picknick und dem Planschen im See, die Mutter mit den Kindern ohne den Vater und Ehemann. Erst allmählich tastet sich die Erzählung an das Beklemmende heran. Immer dann, wenn der Vater auftaucht und mit Ärger und zum Teil mit Gewalt reagiert, wenn er nicht seinen Willen bekommt. Die Kinder erleben früh, dass es bei den Eltern oft Streit gibt und der Vater während bzw. nach solchen Auseinandersetzungen, kaum dass er gekommen, wieder verschwindet. Er arbeitet jetzt als Richter und man kann sich unschwer vorstellen, wie es sich angefühlt haben muss, vor einem solchen Juristen zu stehen.

Reiche will irgendwann wissen, was er denn so als Kriegsfotograf gesehen und gemacht hat, worauf der Vater ausweichend antwortet. Man ahnt aber, der hat nicht Kriegsgräuel dokumentieren wollen, der war dabei, war einer von „denen“. So auch bei einer Massenerschießungsaktion, der sog.Kiesgrubennacht? Reiche will es von ihm, viele Jahre später, wissen: „Hast du auch geschossen?“ Der Vater stellt kurz und bündig klar: „Kein Gesprächsthema für Kaffee und Kuchen.“ Am Ende ist es Volker Reiche nicht mehr so wichtig, zu erfahren, inwieweit sein Vater an der Kiesgrubennacht beteiligt war. Auf einer der letzten Seiten sagt Reiche: „Das sind müssige Fragen. Wir werden auch nicht erfahren, was er in der Kiesgrube gemacht hat. Wär ja auch ein bisschen zu einfach bei einer Generation, die die schweigen wollte und schweigen konnte.“

Diese Jetztzeit-Reflektionen ziehen sich durch das Buch, und das sind Gespräche mit seinem liebenswürdigen, aber genauso selbstverliebtem Kater, Herrn Paul und zwei Hunden, Herrn Müller und Tassilo. Mit ihnen bespricht er das jeweils gerade erstellte Kapitel. (Strizz-Leser kennen diese tierischen Herrschaften.) Dass Reiche mit den Tieren spricht, erklärt er so: „Die kindliche Sicht auf die Dinge wollte ich nicht aufladen mit dem Wissen von später - oder verändern.“ Die Intermezzi halten das Buch zusammen und runden es ab und zeigen etwas von dem heutigen Volker Reiche.

Nach der Trennung der Eltern hat er keinen Kontakt mehr zu ihnen. Die Mutter ist Alkoholikerin geworden und in den 70ern recht früh gestorben, der Vater starb 1993. Im Geist und Habitus ist er bis zum Schluss der Alte geblieben. Da war keine Annäherung und Versöhnung möglich.

Hier hat sich einer zu erinnern versucht und mit den Mitteln der Worte und Zeichnungen sein Leben aufbereitet. Manch‘ einer braucht dafür eine lange Therapie. Doch ist das Buch nicht nur traurig und dramatisch, dafür sorgen schon allein die Gespräche mit seinen tierischen Rezensenten. Nein, Reiche erzählt auch sehr liebevoll, mit schönen, detailgenauen Bildern und einem dezenten Humor. Man kann sich an vielen Bildern des Buches erfreuen, es macht Spaß, sie zu betrachten! Aber auch die Texte, seien es die Dialoge oder die Erläuterungen haben ihre ganz eigene Qualität: da ist kein Wort zuviel, kein Ton falsch. Wenn man mit der Lektüre durch ist, merkt man: das ist ein lebenskluges Buch! Hier hat einer eine große Arbeit geleistet.

Volker Reiche, Kiesgrubennacht, Suhrkamp 2013, 232 S., 21,99€

Die Zitate von Volker Reiche sind der "Kulturzeit"-Seite entnommen.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

H.Hesse

"Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen." Pablo Picasso

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden