Das Ende der Staatlichen Ära (1)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

vor 35 jahren schrieb bernt engelmann (in: Wir Untertanen): "Für die meisten Bundesbürger unserer Tage ist die deutsche Geschichte nur das, was sie in fünfzig, hundert oder mehr Schulstunden davon erfahren haben und später durch allerlei Einzelheiten aus Romanen, Gemälden, Filmen oder Illustriertenberichten ergänzen konnten."
am äußerst lückenhaften und außerdem perspektivisch bizarr verzerrten geschichtsbild der "meisten Bundesbürger" hat sich bis heute nichts zum besseren gewendet, wenn auch inzwischen das internet als informationsquelle hinzugekommen ist.
selbst die experten der vergangenheitserschließung, die historiker/innen, haben kaum eine vorstellung von der ganzen geschichte. ihre defizite haben einen bekannten grund: sie sind professionell zur spezialisierung gezwungen. es ist in der zunft sogar regelrecht verpönt, sich an der universalgeschichte zu vergreifen.
die studienordnung für angehende geschichtslehrer/innen trennt die geschichte im engeren sinn, das heißt, die höchstens 6000 jahre mit schriftlicher überlieferung, von den schriftlosen jahrhunderttausenden der vor- und frühgeschichte (der terminus "Vorgeschichte" spricht bände), nicht nur inhaltlich und personell, sondern auch organisatorisch.
wie es der zufall will, sind die lehramtskandidat/innen gehalten, für ihren künftigen job als beamte in den unter staatlicher aufsicht stehenden schulen den studiengang der herrschafts- und staatsgeschichte zu wählen; sie müssen 'die staatliche ära' studieren, ohne einen begriff von ihr zu haben. einen begriff könnten sie aber nur bekommen, wenn sie von der gesamten menschheitsgeschichte her die nötige distanz zum zeitalter der sogenannten hochkulturen entwickelten. so aber bleibt den historiker/innen und in der folge auch den schüler/innen die spannende entwicklung des homo sapiens vom verwandten der menschenaffen bis zum mehr oder minder aufgeklärten bewohner des planeten vorenthalten, und damit auch der größte und wichtigste teil der menschheitsgeschichte überhaupt.
war die gewaltsame spaltung der weltgeschichte in zwei ungleiche bereiche vor 200 jahren noch verständlich in anbetracht der sehr schmalen wissensbasis damals, ist die dichotomie der historie heute nur noch ein alter zopf, der die vermittlung eines zeitgemäßen geschichtsbildes erfolgreich verhindert. es ist keine frage, welche gesellschaftlichen gruppen ein interesse daran haben dürften, im lehrplan der geographie den anteil der geologie bei null zu halten und im geschichtslehrplan den korrespondierenden zeitraum der schriftlosigkeit ebenso: das reaktionäre lager fürchtet die aufklärerische wirkung der ganzen geschichte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden