Das Ende der Staatlichen Ära (2)

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der größte und bedeutendste zeitraum der menschheitsgeschichte ist für historiker/innen hierzulande noch stets bloß "Vorgeschichte". konkret: von den gut 360 seiten (in: alexander demandt, kleine weltgeschichte, 2003) opfert der professor für alte geschichte gerademal 10 textseiten der "grauen vorzeit". was der autor "Das Erwachen der Menschheit" heißt, klingt vielleicht poetisch, ist im buch aber nichts weiter als das obligatorische händewaschen vor der mahlzeit.
die zum wimpernschlag hyperkomprimierte darstellung der "vorzeit" steht freilich in der jahrtausendealten tradition der sicht der gottkönige, die in ihrer hybris nur mit geringschätzung auf die "wilden" da draußen in der "steinzeit" hinabsehen konnten.

die volle konzentration auf die eigentliche, die geschriebene geschichte mit schriftdokumenten macht die erklärung mancher dinge erheblich einfacher; denn im horizont der stadt- und staatsgeschichte sind krieg und ausbeutung eherne institutionen, die schlicht nicht wegzudenken sind wie einiges andere, das dazugehört.
die volle konzentration auf die eigentliche geschichte erübrigt so müßige fragen wie die nach der entstehung der ungleichheit in der gesellschaft, so müßige fragen auch wie die nach der entstehung von herrschaft, krieg und raubbau. alles das war schon von anfang an unhinterfragbar da.

die staatliche ära dauert erst 6000 jahre. das ist vergleichsweise so viel wie der blinddarm im verhältnis zum ganzen körper. von der höhe der zeit verschwindet der größte teil der menschheitsgeschichte perspektivisch im dunst der grauen vorzeit, von der höhe der zeit aus ist meist nur verächtlich von der "steinzeit" die rede. klar, wer von uns zivilisationsverwöhnten möchte (und könnte) noch leben ohne den trost der technik, der wissenschaft, der aufklärung?
andrerseits wissen wir, der mensch erscheint nicht erst im holozän, sondern schon im pliozän. aus dem affenähnlichen hordentier enwickelte sich der in familienverbänden umherziehende, aufrechtgehende homo sapiens, der neben vielen anderen werkzeugen die wortsprache als hauptwerkzeug formte, eine gemeinschaftsleistung. allen menschen ist die sprachfähigkeit angeboren. für die herausbildung der wortsprache ist ein sehr großer zeitrahmen anzusetzen, denn es waren anatomische anpassungen der beim sprechen aktiven organe nötig, was nur mit evolutionärer langsamkeit vonstatten ging. über millionen jahre muss das ziel zum verständigungsmittel als überlebensmittel gewirkt haben. dabei drängte der evolutionäre überlebensdruck unsere ahnen zu verständigung und zusammenarbeit. sprache und denken schoben sich ganz allmählich zwischen handlungsimpuls und tat, die fesseln der instinkte lockernd.
da verständigung am besten unter egalitären verhältnissen funktioniert, befreite sie die menschen aus der knechtschaft des strengen instinktgesteuerten rangverhaltens innerhalb der gruppe.

im ergebnis war die urgesellschaft lange vor der staatlichen ära nahezu egalitär. außer der genetischen anlage zur wortsprache war den mitgliedern im familienverband eine tötungshemmung untereinander ebenso angeboren wie die spontane hilfeleistung, der bis heute etliche menschen die rettung aus akuter lebensgefahr verdanken.
alle positiven eigenschaften des menschen sind ein geschenk unserer ahnen in ihrer rolle als objekte und subjekte der geschichte. neu sind die dinge, auf die wir zivilisierten oft besonders stolz sind wie systematische wissenschaft und hightech, aber auch sehr negative "errungenschaften" (über die teil 3 gehen wird).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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