Das Fanal zur Französischen Aufklärung:

Jean Meslier, Teil 1 wenn hierzulande (auch in der fc)von aufklärung die rede ist, so ist in aller regel etwas anderes gemeint oder aber ihre diffamierung. ausnahmen bestätigen die regel.

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Der Kampf der „Aufklärung“ ging notwendigerweise gegen die doppelte Repression durch Kirche und Staat. Der Druck der einen Instanz war untrennbar mit dem der anderen verbunden. Wahn & Gewalt, das Markenzeichen der „Zivilisation“, präsentiert sich nach dem Gesetz der historisch-geographischen Adaptation in christlich-abendländischer Kostümierung.

Mochten die Operationsfelder und Kampftaktiken der Aufklärer auch ganz unterschiedlich sein, im Urtext der Französischen Aufklärung, dem Samisdat-Werk des Jean Meslier, seinem „Zeugnis der Wahrheit“, sind die Frontlinien entschieden und klar gezeichnet:

Wenn alle, die genauso gut wie ich, oder eher noch besser als ich, die Eitelkeit der menschlichen Dinge kennen, die viel besser als ich die Irrtümer und den Betrug der Religionen kennen, die viel besser als ich die Missbräuche und Ungerechtigkeiten der Herrschaft kennen, wenigstens am Ende ihrer Tage sagten, was sie darüber denken, wenn sie das alles wenigstens, bevor sie sterben, in dem Maße anprangerten, verurteilten und verdammten, wie es dies verdiente, dann sähe man die Welt bald ihr Gesicht und ihre Gestalt verändern; man lachte bald über all die Irrtümer und all die eitlen und abergläubischen Verrichtungen der Religion, und man sähe bald diese ganze prachtvolle Größe und diesen ganzen stolzen Hochmut der Tyrannen fallen; man sähe sie bald gänzlich bezwungen.“

Dieser barock ausholende Satz ist kennzeichnend für Mesliers Stil. Ohne den Witz und die Gewandtheit der bekannten lumières unterscheidet sein Text sich von den Schriften der Jüngeren wie das Urgestein von gemeißelten Stücken. Sein Werk ist die Antwort auf sein Leben unter den Bedingungen des Ancien Régime. Meslier kannte das Kartell von Wahn & Gewalt, sprich: Kirche und Staat, aus ganz eigener Erfahrung. Niemand hat die menschenfeindliche Doppelspitze so klar erkannt und so entschieden verurteilt wie der Landpfarrer aus der Grenzprovinz der Ardennen.

In das Zusammenspiel (im Komplizendeutsch: Amtshilfe) gewähren die bischöflichen Akten Einblick, wo sie über eine Begebenheit in einem Dorf in den Ardennen berichten.

Es war die Zeit kurz nach dem Ende des „Sonnenkönigs“ Ludwig 14. Der Seigneur von Etrépigny, besagtem Ardennendorf, hatte mal wieder ein paar Bauern misshandelt. Daraufhin unterließ es der Priester Meslier in der sonntäglichen Messe, den Grundherrn wie üblich der Fürbitte der Gemeinde zu empfehlen. Dem Seigneur entging die Strafpredigt ohne Worte nicht. Über die unerhörte Abweichung vom gewohnten Ritual beschwerte er sich beim Vorgesetzten des Priesters, dem Erzbischof in Reims. Prompt wurde der Dorfpfarrer gerügt und angewiesen, das Versäumte umgehend nachzuholen.

Am folgenden Sonntag hörten die in der Kirche versammelten Dörfler von der Kanzel:

So ergeht es den armen Landpfarrern allenthalben. Die Erzbischöfe, selbst reiche Herren, schauen verächtlich auf sie herab und hören sie nicht an. Für die adeligen Herrschaften aber haben sie stets ein offenes Ohr. Schließen wir also den Seigneur in unsere Fürbitte ein. Lasst uns für Antoine de Toully zu Gott beten, dass er seinen Sinn ändere und ihm die Gnade erweise, dass er die Armen nicht mehr misshandelt und die Waisen nicht mehr beraubt.“

Für dieses Bekenntnis zu Wahrheit und Gerechtigkeit hatte der Seigneur kein bisschen Verständnis. Das Maß war voll. Diese Laus von einem Dorfprediger hatte es gewagt, ihn, den hochwohlgeborenen Herrn, öffentlich zu maßregeln. Erneut reichte er Klage beim Erzbischof ein. Der wies Meslier an, den vollständigen Predigttext vorzulegen.

Die Antwort auf den Wortlaut ließ nicht lange auf sich warten. Der den aufrechten Gang probende Pastor wurde in die Zentrale zu Reims zitiert.

Dort war die Sache nicht mit einer ernsten Aussprache abgetan. Erst nach einem Zwangsaufenthalt von einem Monat durfte der aufmüpfige Abbé die Heimreise antreten. Wie man ihn konkret ins Gebet genommen hat, ist nicht protokolliert.

Wahrscheinlich hat man ihm deutlich zu verstehen gegeben, was seine Pflicht sei, und dass er, falls er der noch einmal nicht nachkomme, unausweichlich so behandelt werden würde wie jener Uneinsichtige, der vor einiger Zeit zu Reims lebendig verbrannt wurde.

Meslier begriff die Lektion. In den Akten des Erzbischofs finden sich keine weiteren Klagen über den Abbé aus den Ardennen.

Meslier hatte einsehen müssen, wie ohnmächtig er dem Wahn & Gewalt-Kartell ausgeliefert war. (Im Milgram-Experiment hieß das: „Sie haben keine Wahl. Machen Sie bitte weiter!“)

Aber Meslier dachte nicht daran, seinen Widerstand aufzugeben. Er fing an, ein Doppelleben zu führen. Nach außen hin tat er brav seinen Dienst. Insgeheim aber sammelte er wachsam und geduldig Beweis um Beweis, unabweisbare Tatsachen, eigene und anderer Erfahrungen mit dem System und Schlussfolgerungen.

Im Laufe der Jahre wuchs das Manuskript auf weit über tausend Seiten an. Der Form nach eine Predigtreihe, bestimmt für seine Gemeinde, der Absicht nach eine Aufforderung an alle „Leute von Geist und Autorität, die Partei der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu ergreifen und all die schlimmen Irrtümer und Zustände, den abscheulichen Aberglauben und die ganze abscheuliche Tyrannei anzuprangern und zu bekämpfen, bis sie vernichtet wären.“

Meslier entsetzte das Schweigen so vieler gelehrter und bedeutender Männer, die durchaus über die Lage der unterdrückten Mehrheit im Bilde waren. Der katholische Kleriker Meslier betont wie die Inder Braspati und Carvaka 2 300 Jahre vor ihm, dass Herrschaft auf Täuschung sich stützt, auf die Mythen über Götter und Dämonen, die wie die Religion insgesamt dazu erfunden worden seien, die Menschen zu trösten und zu ängstigen, um sie gefügig zu machen für die Herrschenden. Der „Teiggott“ bestehe aus Mehl und Wasser, und der Rest sei genauso profan.

Das waren zu seiner Zeit starke Worte, öffentlich geäußert todeswürdige Verbrechen. Im Verborgenen machte der arme Abbé seinem Zorn über die Untaten der Herrschenden in noch stärkeren Worten Luft:

Ach, meine lieben Freunde, wenn ich die Hohlheit und die Unsinnigkeit der Irrlehren, die man euch unter dem Deckmantel der Religion beigebracht hat, richtig kenntet, wenn ihr wüsstet, wie man die Macht über euch, die man sich erschlichen hat unter dem Vorwand, euch zu regieren, missbraucht!

Ihr empfändet sicher nur Verachtung für all das, was man anbeten und verehren lässt, und nichts als Hass und Empörung gegenüber all denen, die euch betrügen, euch so schlecht regieren und so schändlich behandeln.

Dies erinnert mich an den Wunsch, den ein Mann einmal äußerte, der weder die Wissenschaft kannte noch Bildung besaß, dem es aber offensichtlich nicht an Urteilskraft mangelte, um all die ekelerregenden Misstände und verabscheuungswerten Willkürherrschaften, die ich hier anklage, richtig einzuschätzen. Sein Wunsch und die Art, seinen Gedanken in Worte zu fassen, zeigen, dass er recht scharfsichtig war und tief genug in dieses abscheuliche Mysterium der Bosheit, von dem ich rede, eingedrungen war, da er so gut dessen Urheber und Förderer kannte.

Er wünschte, dass all die Großen der Erde und alle Adligen mit den Gedärmen der Priester erhängt und erwürgt werden sollten.“

der text ist ein auszug aus meinem buch "Die Evolutioin kassiert die Kriegskultur".

zitate sind dem buch "Das Testament des Abbé Meslier", herausgegeben von günther mensching, suhrkamp 1976, entnommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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