Das Gemeine

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wohlgemerkt, nicht die und auch nicht der, sondern das gemeine. genauso wortgebildet wie: das gerede, das gesinge, das geprahle.

drei historische beispiele aus amerika:

1. columbus meinte, er wäre in indien, dem ziel seiner entdeckungsfahrt, als er in amerika war. er wusste es nicht besser und starb mit der irrigen meinung. nicht genug damit, müssen inseln in der karibik auf den namen "Westindien" hören. so stehts im atlas. schlimmer noch, die indigenen bewohner amerikas müssen sich gefallen lassen, "Indianer" oder "Indios" genannt zu werden. das alles nur, weil der gute alte columbus es nicht besser wusste. schon gemein.

2. walter lippmann war vor knapp hundert jahren ein journalist und kriegsberichterstatter. dann schrieb er sein hauptwerk "Public Opinion" (dt. öffentliche meinung). der autor wendet sich gegen die auffassung, die presse liefere dem publikum die nötigen informationen für demokratische entscheidungen. er kritisiert die angebliche voraussetzung für eine funktionierende demokratie in grund und boden. und seine argumentationskette ist die des prominenten insiders.
zum schluss aber macht er eine kehrtwende um 180 grad und empfiehlt als korrektiv eine neutrale institution, die von der regierung finanziert alle notwendigen informationen sammelt und zur verfügung stellt.
ich kann mich nicht erinnern, ob er die gemeindienste, öh, geheimdienste und ihre informationen einbezog. doch so oder so war sein vertrauen in die regierenden ziemlich weitgehend. um ein bild zu bemühen, nahm lippmann einen großen anlauf, um dann in die entgegengesetzte richtung zu springen. das können nicht einmal hasen perfekt. irgendwie gemein.

3. als der für sein jahrhundert-experiment berühmte sozialpsychloge stanley milgram vor schon fast einem halben jahrhundert die öffentlichkeit in den usa mit dem ergebnis schockierte, rund zwei drittel aller versuchsteilnehmer/innen seien so gehorsam gegenüber autoritäten, dass sie bis zum foltern und töten gingen, versuchte er dieses verhalten als angeboren zu erklären. seine deutung setzte ein flottes gehorsamsgen voraus, das in den wenigen jahrtausenden der herrschaft entstanden und gleich dominant vererbt sein müsste. ein irrtum natürlich. schon gemein.

wie wenig vertrauenswürdig das gemeine ist, kommt in dem norddeutschen spruch zum ausdruck, den ich bei meinem hamburger grundschullehrer aufgeschnappt habe. sein kommentar, wenn ein schüler stokkend erklärt hatte, warum seine hausaufgabe nicht im heft stand oder er sonstwie aus der spur gekommen war: "ik dacht, ik meen, ik wull, da ha' ik de büx al full."

ein siegel über geprüfte sicherheit tragen sie nicht. trotzdem wollen meinungen grundsätzlich irgendwie ernst genommen werden.
das gemeine gilt als so grundlegend fürs gemeinwesen, dass es sogar grundgesetzlich geschützt ist, die meinung öffentlich zu äußern.
dabei sind alle meinungen prinzipiell gleichberechtigt. wenn aber eine mehrheit das gleiche meint, hat die minderheitsmeinung das nachsehen.
mensch muss wissen, meinungen sind vergleichbar mit währungen. was sie wert sind, ihre kaufkraft, hängt von vielen faktoren ab. goldgedeckt sind sie jedenfalls nicht (mehr).
das gemeine ist ein teil der marktwirtschaft und der demokratie. für die verhältnisse ist es mehr oder minder hinreichend.

über wissenschaftliche erkenntnisse und ethische wahrheiten aber lässt sich nicht abstimmen. verhältnismäßig ungemein.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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