das große wörterbuch.

kritik. nach dem nazionalen großereignis sah sich das dudenteam in den 90er jahren herausgefordert, ein den neuen verhältnissen angemessenes großes wörterbuch zu schaffen.

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dass der duden es so weit gebracht hat, hätte sich konrad duden nicht träumen lassen, auch nicht in den quälendsten alpträumen.

wenn er in seiner abhandlung "Die deutsche Rechtschreibung" (1872) schon das historische prinzip, besonders extrem im englischen präsent, nicht mehr konservativ, sondern reaktionär nannte, was würde der mann wohl zur neuesten ausgabe des deutschen wörterbuchs sagen, das seinen namen trägt?

die erstmalig in 10 großbänden publizierte wortsammlung dient vor allem einem zweck: der repräsentation im bewusstsein neuer größe und verantwortung der berliner republik. zwischen dem hohen anspruch und der realität des dargebotenen klafft wie beim hochmut vor dem fall eine gar garstige leere.

im deckeltext von band 10 wird die hohe hürde gezeichnet, die ein wort vor dem eintrag im großen wörterbuch überspringen muss. angeblich ist in jedem einzelfall nüchtern abzuwägen, ob denn wohl die voraussetzungen für einen stichworteintrag erfüllt sind, nämlich "Mehrfachbelegung" und "Belegstreuung". und wie es weiter heißt, muss davon ausgegangen werden können, dass die kandidaten "in der Allgemeinsprache fest verankert" sind. bei genauerem hinsehen zeigt sich, dass auf jeder der ca. 4700 seiten zumindest ein stichwort steht, das die genannten voraussetzungen nicht erfüllt.

da ich gerade den zehnten band in der hand habe, schlage ich ihn stichprobenartig irgendwo auf und lande auf seite 4632. unterstrichen finde ich (von meiner mehrjährigen vorarbeit) die einträge "Ziemer (bes. Jägerspr.)" und "Ziepchen, Ziepelchen (landsch.)". ersteres entstammt dem soziolekt der jäger, letzteres verweist auf dialekt, aber ohne angabe einer region. anschließend lese ich "ziepen", das gleichfalls den vermerk "(landsch.)" trägt, immerhin ergänzt durch "(bes. nordd.)", was zumindest einen großraum nennt.

für alle drei genannten stichwörter gilt, dass sie nicht teil der allgemeinsprache sind, also gar nicht dokumentiert werden dürften. der vermerk "landsch." für landschaftlich ist darüber hinaus eine zumutung, denn welche landschaft oder region gemeint sein könnte, dürfen die nutzer des wörterbuchs gefälligst selbst erraten oder herausfinden. "landsch." reimt auf mansch und pansch. das ist bezeichnend für die lexikografische finesse dieses machwerks. wenn "landsch." nur ausnahmsweise auftauchte, aber nein, es wimmelt nur so von landsch. es ist das markenzeichen des großen wörterbuchs.

nach diesem befund versteht es sich von selbst, dass die vielen regionalismen aus süddeutschland, österreich und der schweiz überall vertreten sind. der widerspruch von regional- und allgemeinsprache wird schlicht geleugnet. das hohle getön in band 10 über die aufnahmekriterien ist verzichtbar. natürlich ist die regionalsprache ein teil der allgemeinsprache. doch wieviel davon ins große wörterbuch gehört, wieviel fest verankert in der allgemeinsprache ist, verlangt eine genauere untersuchung.

im zeitlater der digitalisierung dürfte es ein leichtes sein, für jedes stichwort die wortfrequenz anzugeben. was sich dann in der schweiz als relativ gebräuchlich herausstellt, erhält die zulassung zum duden. was aber regional selten gebraucht wird, hat im allgemeinen wörterbuch nichts verloren. dafür gibt es spezialsammlungen.

ähnlich ergiebige fanggründe für lexemfischer bietet der bereich fachwörter. ein terminus, der womöglich nicht mal unter fachleuten bekannt ist, dürfte nicht ins große wörterbuch aufgenommen werden. die wortfrequenz wäre auch hier ein guter maßstab. aber im dicksten duden aller zeiten trifft man überall auf fachausdrücke, die allein in der abteilung geläufig sind. fachwörter aus medizin, biologie, mineralogie, die nur kenner gebrauchen, sind niemals fest in der allgemeinsprache verankert. oder weiß jemand etwa, dass "Zein" ein eiweiß ist, das besonders im mais vorkommt? oder wozu ein "Zeiselwagen" gebraucht wird?

ich werde den verdacht nicht los, die redaktionäre in mannheim und ihre helfershelfer verfolgten eisern das ziel, anstelle von nur sechs bänden dieses mal mit 10 großbänden zu glänzen, koste es, was es wolle. nur so ist zu verstehen, warum nicht nur regionalismen in fülle vertreten sind, gleichfalls soziolektale spezialwörter, sondern noch skrupelloser in die trickkiste gegriffen wurde, um einträge zu kreieren, die gar keine lemmata sein dürften, weil es gar keine wörter sind. es ist nicht schwer, dutzende beispiele zu finden. so sind im handumdrehen aus prä- und suffixen neue einträge gezaubert worden. die serie "ex-", "ex-und-hopp-", "exil-", "exo-", "extra-" liefert nur eine handvoll einträge, aber die suffixserie "-eur", "-euse" plus "-fach", "-fächerig", "-fädig", "-farben", obschon unvollständig, erhöht die pseudoliste schon auf 11 einträge. aber es bleibt natürlich nicht bei prä- und suffixen, sondern andere teile von wörtern müssen ebenfalls herhalten als fettgedruckte lemmata. etwa "-zeiler" oder "-zeilig" mit der erläuterung: "in Zusb.: z.B. Achtzeiler (aus acht Zeilen bestehender Text)".

und wenn schon die wortbildung füllstoff bietet zum höheren ruhme des deutschen wortschatzes, warum dann nicht auch die reiche formenlehre der starken verben? nach dem eintrag "wöge" erscheint ein verweis auf "wiegen", wie nach "wöbe" auf "weben". usw.

eine weitere unlautere methode zur erfindung dessen, woraus ein wörterbuch besteht: solche wortkreationen sind dem bild gemäß, das man auf rinderweiden oft beobachten kann. die tiere grasen gern am zaun, genauer: auf dem teil der grasfläche, die außerhalb des zauns liegt, aber mit hals- und zungenlänge noch gerade erreichbar ist. wie das wählerische rindvieh grasen die lexikografen gern an den grenzen des sprachraums und strecken ihre köpfe öfters durch den grenzzaun. in zeiten der tourismusindustrie ist die berührung mit anderen sprachräumen nicht auf die nachbarländer beschränkt. zum beispiel spanien. ich stelle es dem urteil der geneigten leser anheim, zu entscheiden, welche der folgenden wörter aus dem großen wörterbuch so deutsch sind, dass sie in das große wörterbuch passen: "Fanega", laut erläuterung "früher" ein hohlmaß in spanien und lateinamerika. "Fandango", "Banderilla", "Banderillero", "Torero", "Torera", "Toro", "Toreador", "Tortilla", "Corrida".

bei nachbarsprachen ist die gelegenheit, die bekanntlich diebe macht, noch eher gegeben. so wird das holländische wort für krieg "oorlog" als deutsches wort aus angeblich älterer zeit geführt. doch das holländische wort für zöllner "douanier" wird mit großem D deutsch. so zumindest im dicken duden.

die erhöhte anzahl frauen in der redaktion und im weiteren stab der mitarbeiterinnen führte wiederum zu mehr stoff, denn neuerdings gesellt sich zu allen berufsbezeichnungen die weibliche form mit der endung -in zu den männlichen. ob es wirklich eine "Steigerin" in irgendeiner zeche gibt, kann ich nicht sagen. aber eine "Bundespräsidentin" gibt es bis jetzt wirklich noch nicht, wohl aber im dicksten duden.

das große wörterbuch der deutschen sprache ist überdies eine fundgrube für allerlei esoterisches gedöhns und obskuritäten wie etwa die "Parapsychologie" (als wenn die wissenschaftliche nicht schon genug probleme lieferte), die "Chirologie" oder auch "Chirognomie" und "Chiromantie". die handleserei bringt es im dicken duden immerhin auf sechs einträge. nebenan darf die "Clairvoyance" nicht fehlen. "Schutzgeist" und "Berggeist" obendrein. aber auch den "Aufhocker" möchte ich nicht verschweigen.

nächst dem aberglauben schlägt der glaube ordentlich zu buche. oft schon von weitem am latein zu erkennen, wenn auch nicht jedesmal verständlich trotz großem latinum. was "Exorzismus" bedeutet oder "Apokalypse" dürfte allgemein bekannt sein, wenn es aber richtig lateinisch und katholisch wird wie beim eintrag "ex opere operato", verlässt der duden bei weitem das fest in der allgemeinsprache verankerte. hier könnte nun eine ganze litanei lateinischer und griechischer brocken folgen, die genauso außerhalb der allgemeinsprache liegen. der dicke duden ist voll davon. oder weiß jemand etwas mit "Etimasia" anzufangen? oder mit "Ordal"? oder "Offertorium"? "Athanatismus"? es ist ja nun einmal so, dass jahrhundertelang latein gepredigt und geschrieben wurde. es wäre undenkbar, dass nicht deutliche spuren davon in der gegenwartssprache noch zu finden wären. aber die fülle veralteter und ungebräuchlicher wörter müsste gelichtet werden, etwa durch ein maß zu nutzen wie die wortfrequenz.

last but not least das dicke ende der dudenkritik. es ist ja kein zufall, dass gegenwärtig die fremdenfeindlichkeit im lande schlagzeilen macht. der dicke duden transportiert den längst nicht überwundenen rassismus der nazizeit und der jahrzehnte davor. den machern des wörterbuchs kann ich den vorwurf nicht ersparen, dass sie unkritisch bis lasch mit der üblen tradidtion umgehen. offensichtlich haben sie den begriff "Rasse" nicht hinterfragt, sondern mogeln sich um die fundierte kritik herum, indem sie statt rasse durchweg menschentypus gebrauchen. als wenn dadurch klarheit geschaffen würde. die dudenredaktion ist nicht besser dran als der bundestag. im grundgesetz steht noch immer das wort "Rasse" so selbstverständlich, wie es das nach dem krieg offenbar noch war.

typisch rassistische zuschreibungen wie "Castize, Kastize", in der erläuterung dazu ist zu lesen: "[span. (mex.) castizo = von reinem Blut, zu: casto = rein < lat. castus, s. Kaste]: Nachkomme eines europiden u. eines mestizischen Elternteils." übrigens folgt gleich die "Castizin, Kastizin" nach dem feministischen muster, wonach kein mann ohne die gleichberechtigte frau sein soll. um das wort verstehen zu können, folgt der "Mestize", der so erklärt wird: [span. mestizo < spätlat. mixticius = Mischling, zu lat. miscere = mischen] Nachkomme eines weißen u. eines indianischen Elternteils." so geht das durch mit "Mulatte", "Negride", "Europide" usw. der sogenannte "Menschentypus" wird so erklärt: "durch gleiche od. ähnliche Erbfaktoren (Hautfarbe, Haar, Kopfform u.a.) gekennzeichneter Typus."

den dudenredaktionären ist entgangen, dass der begriff rasse obsolet ist. biologisch seit mehreren jahren, ethisch schon immer. darum blüht der rassismus im vorzeigebuch weiter, fast unvermindert. die fremdenfeindlichen worte im volke sind nicht aus den wolken gefallen, sondern nie eindeutig negiert worden. sie sind teil der tradition dieses landes. das repräsentativ aufgemachte großwörterbuch trägt dazu bei, die böse saat in alle ecken des deutschen sprachraums zu tragen.

neben handwerklichen fehlern zeigt das standardwerk auch die fratze der unbewältigten vergangenheit. darum ist es, mit konrad duden zu reden, reaktionär.

DUDEN Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden, Studienausgabe, 3., völlig neu bearb.und erw. Auflage - 1999 Mannheim

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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