das rabentagebuch (1und 2).

mein rabe krah. je weiter mensch sich entfernt von seiner herkunft, von der natur, desto stärker wird im gegenzug sein verlangen nach dem ursprünglichen, nach der natur.

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1 der nestling

es war der reine zufall, dass eine bekannte mit ihrem hund außerhalb der stadt unterwegs war und am weg einen größeren vogel fand, den sie für tot hielt, weil er auf dem rücken lag und sich nicht rührte. als sie am folgenden tag auf der hunde-runde den vogel an derselben stelle sah und er sich ein wenig zu bewegen schien, nahm sie das findelkind in schwarzer vogelgestalt mit.

so oder ähnlich schilderte die bekannte den hergang. sie glaubte, das tier sei wohl aus dem nest gefallen. bei ihr zuhause taute das fundstück allmählich auf und sperrte den großen schnabel auf, dass die frau ihren mutterinstinkt gefordert sah und zu füttern begann. es kam ihr zugute, dass sie schon mehrmals kleine gartenvögel gepäppelt hatte.

ist es in ordnung, dass menschen tierbabys, die sie draußen in der natur finden, mitnehmen, weil ihr schutzinstinkt sie dazu anhält? oder haben jene warner recht, die sagen, jungtiere sollte mensch in der natur belassen, denn die mitnahme raube den in der regel noch fütternden und schützenden tiereltern den nachwuchs, der meist beim menschen schlechter aufgehoben sei und zu oft den wechsel nicht überlebe?

aus wölfen sind durch den welpenraub immerhin hunde geworden, aus hühnern fleißige eierleger. was hätte aus den geraubten rabenkindern nützliches werden können? vielleicht noch wachsamere wächter als hund oder gans? eine müßige frage. hausraben gibt es nicht.

bis die nachricht von dem seltenen fund bei mir ankam, vergingen ein paar tage. inzwischen hatte die frische pflegemutter für reichlich futtervorräte gesorgt, ein kilo herzstückchen vom schwein, genauer: vom metzger im supermarkt.

aber weil der rabe nun alles andere als scheintot war, vielmehr recht oft seinen namen schrie und dabei seinen roten rachen zeigte als unmissverständliches zeichen, dass er großen hunger hatte, kamen der bekannten nun langsam zweifel, ob sie gut daran getan hatte, den großen vogel mitzunehmen. ja, sie gab zu verstehen, dass sie den raben möglichst bald abgeben wollte. sie hatte vor, demnächst ein paar tage zu verreisen, und für die zeit brauchte sie jemanden, der oder die den großen vogel versorgte. noch lieber wäre ihr, ließ sie wissen, den findling jemandem ganz zu überlassen. denn irgendwie war ihr das tier mit den großen schwarzen flügeln und dem großen schnabel etwas zu aufdringlich und, ja, auch etwas unheimlich, wenn er jene bewegte und diesen weit aufsperrte und so rabiat dabei schrie.

der rabe hat ja allgemein nicht den besten ruf, besonders unter bauern und jägern. aber auch weit darüber hinaus. man denke nur an die breitenwirkung solcher krawallfilme wie hitchcocks thriller „Die Vögel“. vielleicht spielte das zumindest unterbewusst eine rolle.

ich kann mir aber auch vorstellen, dass eine hausfrau wohl gern den hunger des rabenkindes stillt, nicht aber mit gleicher freude die großen kleckse des verdauten futters in ihrem haus sieht, egal ob in der wohnung oder garage.

als ich meine bereitschaft bekundete, den findling ganz zu übernehmen, war kein deal nötig. die sache war im nu geregelt. ich hatte einen geflochtenen korb als transportbehälter mitgebracht und schon landete krah im korb auf dem beifahrersitz neben mir. während der fahrt redete ich ihm beruhigend zu, denn er war ja wahrscheinlich noch nie auto gefahren. das kilo geschnetzeltes herz kriegten wir als zugabe mit.

hier in meiner behausung angekommen, musste ich überlegen, wo der liebe gast die erste nacht verbringen könnte. nach einigem hin und her stellte ich den korb samt inhalt auf die mit allerlei möbeln ziemlich zugestellte veranda. eine verlegenheitslösung, wie sich bald erweisen sollte.

hauptsache, ich hatte schon mal, worauf ich schon jahre gehofft hatte. als schüler hatte ich den eichelhäher rätsch gefüttert, bis er flügge war. und vor mehreren jahren hatte ich die dohle kjack, die ich an der kirchmauer von kindern umringt fand, in einem pappkarton mit nach hause genommen und bis zur flugreife gepflegt. nach diesen kleineren Rabenkindern wollte ich gern einen größeren raben haben. etwa einen mittelraben. und nun hatte ich ihn bei mir. ein gutes gefühl.

irgendwie hat der wunsch nach einem größeren vogel freilich auch etwas bedenkliches wie der wunsch nach dem größeren auto oder haus. wozu das führen kann, ist im märchen „Vom Fischer un sine Fru“ nachzulesen.

bei mir hat der wunsch eine parallele in der jugend, als ich immer nur kleine hunde hatte und mir dann, als ich selbst älter und größer wurde, einen größeren hund wünschte. so einen, der nicht so oft kläfft, so einen, der ernst genommen wird.

mit dreizehn jahren begann ich, in einem taschenkalender naturbeobachtungen festzuhalten. vor allem zwei dinge fanden meine aufmerksamkeit: wetterdaten und vögel. in einem wort: überirdische erscheinungen.

auf meinen wanderungen durch die umgebung konnte ich bei sonnigem wetter dem segelflug des bussards lange zuschauen, begeistert von der segelkunst des großen vogels, der ohne einen flügelschlag hoch über feld und wald seine kreise zog, dabei sogar an höhe gewann. war das reines spiel mit den aufwinden? oder konnte er aus so großer distanz noch seine beute am boden erkennen?

am liebsten hätte ich damals die kreise des mäusebussards über der hellen frühjahrslandschaft in einer erzählung nachgezeichnet und noch höher und weiter geschraubt; den anfang habe ich auch gemacht, aber dann fehlten mir schlicht die worte.

übrigens gilt meine vorliebe seit langem anderen gefiederten: nicht mehr dem bussard, sondern den rabenvögeln. die großflügler unter ihnen können in der segelleistung durchaus mithalten mit dem bussard. so sah ich gleich eine ganze krahfamilie, die sich bei sonnenschein hier in der nähe in den blauen himmel hochschraubte. ein schönes schauspiel, da sich gleich ein dutzend raben am thermikfliegen beteiligte. am sonntäglichen familienausflug - in des wortes freundlichster bedeutung.

2 das ersatznest

vielleicht vier stunden hatte ich in der nacht geschlafen, als ich zwischen fünf und sechs uhr nachsah, wie es krah in der ersten nacht ergangen war in der schon wieder ganz neuen umgebung. ich fand ihn zitternd im geflochtenen korb. die nacht war relativ kühl gewesen. ich holte ihn hervor und setzte ihn auf den rand seines „nestes“ in die morgensonne.

hunger hatte er natürlich längst schon wieder. er ließ sich ganz selbstverständlich füttern, als wenn gar kein pflegerwechsel stattgefunden hätte. krah breitete seine beachtlichen flügel aus und applaudierte mit ihnen, während ein stückchen herz nach dem anderen in seinem roten rachen verschwand. zwischendurch rief er vernehmlich seinen namen. krah. krah.

nach dem frühstück entwickelte sich ein tischgespräch zwischen uns beiden. ich sprach ihn an mit krah, und er antwortete mit krah. oder er sagte krah, und ich stimmte ein mit krah. ganz gleich wer von uns das wort nahm, die antwort ließ nicht auf sich warten. krah-krah-krah.

das zweite frühstück folgte so gegen neune. eine schöne wiederholung vom frühen morgen. und schon waren wir ein eingespieltes team.

bevor ich am mittag in die klinik fuhr, wo meine partnerin durch intensive reha-maßnahmen ins leben zurückgeholt werden sollte, nachdem sie einen schlaganfall erlitten hatte, legte ich kleine erdbeerstückchen auf einen blechdeckel. ich wollte sehen, ob krah schon in der lage wäre, sich selbst zu bedienen.

er wars. der deckel war leer, als ich gegen abend zurückkam. kein stückchen erdbeere hatte er liegen lassen. er konnte sich im notfall also schon selbst versorgen.

auch die jungen raben draußen lassen sich gern noch lange füttern, wie fast alle jungen vögel, nehmen aber auch schon selbst das eine oder andere auf. ich hatte krah zumindest vier stunden allein gelassen. viel zeit, von den verlockenden erdbeeren überredet zu werden.

zum abendbrot gabs wieder herz. danach suchte er sich einen geeigneten schlafplatz. als es zu dämmern begann, hatte er ihn gefunden, und zwar für lange zeit, nein, für immer: wenn ich im wohnraum das licht anmachte, sah mir krah von seinem fensterplatz aus zu, den er immer beizeiten aufsuchte. die beiden niedrigen fenster in der wand zwischen meinem wohnzimmer und krahs wohnraum erlaubten uns beiden den durchblick in den raum des anderen. und von dieser möglichkeit machten wir beide täglich regen gebrauch. krah verstärkt abends,wenn die helligkeit umzog von seinem raum in meinen. so kam es nicht selten dazu, dass er noch an meinem späten abendbrot beteiligt war. doch meist mehr spekulativ als materiell. planmäßig gab es vier mahlzeiten am tag für krah. genau wie für mich.

krahs munterkeit und lebendigkeit war ein unübersehbarer kontrast zu dem, was ich jeden tag in der klinik zu sehen bekam. vom personal abgesehen praktisch nur strike-patienten, deren leiden mal mental mal orthopädisch waren. je nach dem, welche partie des gehirns den schlag abbekommen hatte. krah dagegen fehlte offensichtlich nichts, er war die ungetrübte lebensfreude in person.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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