das rabentagebuch (10 und 11).

mein rabe krah. s. o.

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10 winterspiele

übrigens habe ich krah niemals so schlafen sehen können, wie man das von allen vögeln kennt. ob spatz oder schwan, ob taube oder huhn, im schlaf stecken sie alle ihren kopf hinter den flügel. das habe ich bei krah nie beobachtet. möglich, dass er zu wachsam ist und sofort aufwacht, wenn ich ihn morgens oder abends, im hellen oder im dunkeln durch meine begrüßung oder das leiseste geräusch wecke. ich wüsste schon gern, ob dieses abweichende verhalten nur krah oder allen seinen verwandten eigen ist. ich habe nirgends gehört oder gelesen, dass alle raben so schlafen wie er, das heißt, mit eingezogenem hals wie auch am tage in ruhehaltung, aber den schnabel stets sichtbar, die waffe stets im anschlag?

als die tage merklich kürzer wurden, kündigte sich der traurige winter an. traurig, weil ich nur noch wenig zeit für krah hatte, weil ich in den hellen stunden meist unterwegs war zur klinik, die ich möglichst vor dem dunkel wieder verließ. so blieb für krah nur die zeit vor und nach der fahrt.

meist gelang es mir, krahs verhalten zu verstehen, wenn es auch manchmal wie beim pseudogähnen etwas dauerte, bis der groschen fiel.

mir war beim beobachten meines pfleglings aufgefallen, dass er manchmal den schnabel weit aufsperrte ohne ersichtlichen grund. es sah aus, als gähnte er. aber irgendwie genügte mir diese erklärung nicht.

beunruhigend war krahs unverständliches gähnen nicht. es machte mich aber neugierig, was es wohl zu bedeuten hatte, wann immer ich das sah. endlich ließ mich krah nicht länger im ungewissen. wieder sperrte er den Schnabel weit auf und wiederholte die doch ein wenig anstrengend aussehende vorführung, bis dann die ursache des pseudogähnens ans licht kam. krah würgte das erste gewölle aus, das ich zu gesicht bekam. nun weiß ich, was es auf sich hatte mit dem seltsamen gähnen. krahs würgen wie eulen und bussarde das unverdauhliche aus, dass sie aufgenommen haben.

aber eine szene habe ich nie verstanden. und auch sie kam wiederholt vor. krah sprang von meinem arm aufs bücherbord vorm fenster. dort fand er eine kleine feder, die er verloren hatte, nahm sie in den schnabel und führte damit einen seltsamen tanz auf. er drehte sich etwas geduckt und stieß einen gedehnten päpenden klagelaut aus. dabei näherte er sich dem fensterwinkel, als wollte er da die feder ablegen. das tat er aber nicht.

es kam mir so vor, als suchte krah etwas, vielleicht den geeigneten platz für ein nest oder für die feierliche ablage der feder, was auch immer dieses ritual bedeuten mochte.

nach kurzer zeit wechselte krah aus dem besonderen trauertanzmodus zurück ins normale verhalten. er gab die geduckte haltung, das rumgeeiere und das gequälte quäken auf und benahm sich wie vorher oder wie gewöhnlich. statt einer feder konnte er auch mit einem stück papier das gleiche ritual aufführen. ich konnte am fenster oder auch sonst nichts besonderes, keinen möglichen auslöser entdecken. trauerte der rabe etwa um den verlust der kleinen feder? aber dann könnte er den tanz nicht auch mit einem schnipsel papier aufführen.

es war selten, aber manchmal war krah nicht ansprechbar. vielleicht hatte er migräne oder wollte schlicht seine ruhe haben. wenn ich ihn dann ansprach, antwortete er nur einsilbig durch die nase sowas wie äh oder näh . es hörte sich an, als hätte ich einen knopf am schifferklavier gedrückt. krahs reaktion war nicht nur einsilbig, sie war auch eintönig. es war immer der gleiche ein wenig genervt wirkende quetschkommodenton, wie ihn jemand von sich gibt, der müde ist und in ruhe gelassen werden möchte. seine ganze haltung passte dazu. er saß mit eingezogenem hals da und rührte sich nicht.

gewöhnlich war krah in bewegung. seine haupttätigkeit an langen grauen wintertagen war erfüllt vom studium der bibliothek, die in fünf regalen auf seiner veranda verstaut war. es begann damit, dass er einen strategisch günstigen standort aufsuchte, von dem aus er zugriff hatte auf eine reihe bücher, die ihn interessierte. die packte er der reihe nach am rücken und zog sie aus dem fach. wenn er einen ordentlichen packen auf den boden geworfen hatte, sprang er hinunter, öffnete einzelne beutestücke und zog schon mal das eine oder andre interessante blatt heraus für später.

das ergebnis seiner hingebungsvollen tätigkeit, die sich meist in meiner abwesenheit abspielte, war ein dichter blätterteppich, der nach und nach den gesamten fußboden der veranda bedeckte. für nichtraben ein unverständlicher zeitvertreib. doch krah und seine artverwandten finden den blätterteppich richtig nützlich. sie brauchen ihn täglich. weil sich unter den blättern so herrlich leicht etwas verstecken lässt. und verstecken ist eine haupttätigkeit aller raben. eichelhäher heißen so, weil sie gern eicheln verstecken, genau wie die eichhörnchen. krah und die großen raben lassen auch gern einen futterbrocken im blätterversteck verschwinden, aber sie kennen auch ganz andere wertgegenstände, die unbedingt vor den blicken anderer artgenossen unsichtbar gemacht werden müssen. krah zum beispiel ließ blanke metallstücke und glas im blätterwerk unsichtbar werden.

die raben draußen in der freien wildbahn achten peinlich darauf, dass niemand aus der verwandtschaft zuschaut, was und wo etwas versteckt wird. der interessierte augenzeuge könnte ja von seinem wissen unerwünschten gebrauch machen.

ich durfte stets zusehen, wenn krah etwas versteckte, ganz gleich was es war. das heißt, für ihn war ich kein rabe. trotzdem achtete er äußerst gewissenhaft darauf, dass niemand das verborgene gute stück aus einem bestimmten blickwinkel womöglich doch erblicken könnte. er legte nicht nur ein blatt oder mehr auf das versteckte, sondern prüfte aus den verschiedensten blickwinkeln, auch aus den spitzesten dicht am boden, ob vielleich doch noch eine winzigkeit zu sehen wäre. nicht selten brach er die aktion ab, um einen besseren punkt für sein vorhaben zu finden, um für absolute unauffindbarkeit zu sorgen.

da krah nie erlebt hatte, dass eins seiner verstecke geplündert worden war, tat er das, was er tat, rein instinktiv. das risiko, dass ihm etwas abhanden, pardon, abschnabel kam, tendierte gegen null.

krah versteckte genauso oft nicht essbare gegenstände wie futter. dieses war jedesmal an der reihe, wenn er genug hatte. er achtete sehr darauf, nicht zuviel zu essen, als wenn er sein fluggewicht kontrollieren müsste.

sein interesse für technische dinge war auffallend.

zuerst dachte ich, der knallgelbe wecker, der auf einem bücherbord stand, weil er da schon lange stand und nicht weggeräumt wurde, habe krahs interesse aufgrund seiner auffälligen farbe geweckt. es zeigte sich aber bald, dass es so einfach nicht war. wenn krah den wecker vom bord geworfen hatte, stellte ich ihn einfach wieder an seinen platz zurück.

doch bald musste ich einsehen, dass krahs interesse nicht so oberflächlich war. er schaffte es, die gelbe uhr in seinen trinknapf zu bugsieren, wo natürlich das uhrwerk zu leben, d.h. zu ticken, aufhörte. damit nicht genug, öffnete krah mit seinem präzisionsschnabel danach das batteriefach und warf die batterie in sein trinkwasser. damit machte er dem gelben "tier" den garaus. als hätte krah geahnt, dass er mit wasser der elektrizität beikommen könnte. er war bis zur seele des uhrtiers vorgedrungen.

krahs interesse für technisches war ganz offensichtlich. wenn er schon wieder einen rostigen nagel aus dem garten auf die veranda brachte, freute ich mich einerseits über krahs scharfen blick und seine gründliche aufräumarbeit, andrerseits fürchtete ich jedesmal, er könnte den spitzen gegenstand verschlucken. indem ich ihm dann ein noch blankeres stück anbot, eine blanke vorlegscheibe zum beispiel, konnte ich ihn leicht von seinem fundstück ablenken, um es schnell verschwinden zu lassen.

babys, bevor sie anfangen zu sprechen, etwa im alter von einem halben jahr, liegen eines tages gestillt und gut gelaunt in ihrem wagen oder bettchen und spielen mit ihrem stimmapparat. gut hörbar lallen sie die tonleiter auf und ab und kreuz und quer, mischen darunter aber auch alle konsonantischen geräusche, die sie schon produzieren können. so geht es eine ganze weile die skala der möglichkeiten von kehlkopf, zunge und lippen durch. bis es irgendwann ruhig wird, weil das baby des lallens müde wurde und einschlief oder aber etwas störte, sodass die unbewusste sprachübung in quengeln oder plärren überging.

die lallübungen im babyalter erinnern mich an krahs wintergesänge und umgekehrt. vielleicht gibt es aber auch eine beziehung zum „kleinlauten“ wintergesang der amseln. wie beim „übenden“ baby war es so, als probierte krah seine lautmöglichkeiten durch, als ich ihn belauschte. vom knarren und krächzen ging das bis hinauf zu den höchsten sprossen und spitzesten vokalen der rabischen tonleiter. mir zeigte der rabe so, dass er einer der größten singvögel ist. weil ich ihn nicht stören wollte, lauschte ich unauffällig.

11 Der Rabe von der traurigen Gestalt

krahs erscheinungsbild litt unter den neuen bedingungen. der hängende linke flügel war das auffälligste äußere zeichen seiner nun einsetzenden längeren gefangenschaft beim flügellosen.

als nächstes mussten die schwanzfedern dran glauben. sie hingen regelmäßig in den frisch geworfenen klecksen, wodurch die spitzen nicht mehr spitze aussahen, sondern weiß wie mit farbe vom anstreicher bekleckert. wenn krah sich damit vor den fensterscheiben drehte, entstanden auf dem glas abstrakte pinselzeichnungen in weiß.

raben sind nun mal augentiere wie menschen und bevorzugen daher fensterplätze. anders als menschen kontrollieren vögel ihre ausscheidungen nicht. es wird oft und überall gekleckst, konzentriert an den stellen, die gern aufgesucht werden. hier: an den fensterplätzen. so war das schicksal der schwanzfedern besiegelt.

in der freien natur ist das problem nicht existent. da halten sich die gefiederten meist auf bäumen bzw. zweigen auf, sodass die kleckse selten die bevorzugten äste treffen. krah aber bewegte sich meist auf den obersten flächen der bücherborde vor den fenstern. wenn ich die folgen geahnt hätte, wäre es sicher möglich gewesen, künstliches geäst zu bauen anstelle der bücherbordflächen.

dem imageschaden gegenüber veränderte sich krahs äußeres aber auch in einem punkt zum positiven, wenn das auch nicht so auffällig in erscheinung trat. der nestlingsschnabel mit den typischen gelben rändern und ecken verwandelte sich kaum merklich in den erwachsenenschnabel. krah wirkte dadurch ernster und ernstzunehmender. denn was ist schon respektgebietender als der ausgewachsene rundum schwarze rabenschnabel?

seine sockenattacken kamen überraschend. während mein nachbar theo und ich nichts ahnend miteinander redeten, näherte sich krah unauffällig am boden, suchte hier und da unter den blättern und schlug unvermittelt mit seinem rabenschnabel zu. es traf jedes mal die socken in den sandalen. er machte keinen unterschied zwischen den socken meines nachbarn und meinen. was der auslöser gewesen sein könnte, ist nie ermittelt worden. die gegenprobe ohne socken haben wir nicht gemacht.

krahs harte schnabelattacken auf meine hände, wenn die in handschuhen verborgen waren, spricht aber für die annahme, krahs aggression richtete sich gegen die verhüllung. er schlug so hart zu, dass seine schnabelspitze handschuh und haut bis aufs blut durchdrang.

dass es nicht die hände bzw. füße waren, die krahs attacken auslösten, beweist seine absolut friedliche art und weise, in der er mit hand und fingern umging, wenn sie kein handschuh verbarg. nichts schien ihn dann zum angriff zu reizen. ich konnte seinen schnabel anfassen, ihm die finger in den schnabel stecken. darauf reagierte er jedesmal wie ein hund auf die hand des herrchens oder frauchens, nicht bissig scharf, sondern spielerisch, völlig zahm.

der respektable rabenschnabel konnte freilich den verlust am anderen ende, den ausfall der schwanzfedern, nicht wettmachen. erst fransten die enden der federn vom schleifen und kleistern immer mehr aus, dann waren sie eines tages einfach weg. krah hatte sie aber nicht etwa verloren, sondern ganz gezielt gekappt. ich konnte mich davon überzeugen, dass sie ganz bewusst, oder sollte ich sagen: instinktiv? abgeschnitten worden waren. und weil krah den gebrauch einer schere nicht kannte, hatte er die unansehnlichen schwanzfedern sehr kurz gekappt. dazu war er mit seinem erwachsenen rabenschnabel imstande.

schwanzlos und mit hängendem flügel war krah der rabe von der traurigen gestalt. vielleicht entfernt einem menschen ähnlich, der an krücken geht und dessen schädel kahl geschoren ist. das erscheinungsbild eher eines häftlings oder patienten als eines menschen in bester verfassung. nur wenn er mich im wohnraum besuchte, vergaß er seine traurige gestalt, richtete sich hoch auf, indem er beine und hals streckte. im revier des flügellosen wollte er sich von der besten seite zeigen, instinktiv, meine ich. er war dann auch hellwach und neugierig. mein wohnraum war für krah sowas wie ein interessantes forschungsfeld.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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