das rabentagebuch (17)

mein rabe krah. s.o.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

17 rabe-mensch-vergleichbarkeiten

seit meiner kindheit haben mich die beflügelten fasziniert. in kindheitsträumen konnte ich es den gefiederten gleichtun, konnte fliegen von baum zu baum, von zaun zu zaun. manchmal fragte ich mich, ob krah, der ja schon einmal geflogen war, in seinen träumen das fliegen erlebt und die erinnerung daran wachhält. tagsüber sah er ja andere krahs vom benachbarten feld vorüberfliegen, aber auch stare und andere singvögel im garten. was bei haustieren wie hühnern und gänsen noch weiterlebt von der ursprünglichen flugfähigkeit, ist meist nicht viel. manches huhn schafft es, so gerade eben über den zaun hinwegzuflattern in die gefährliche freiheit.

mein eindruck war nicht, dass krah seinen ausflügen nachtrauerte. krah war überhaupt kein kind von traurigkeit. im gegenteil. so unrabisch sein äußeres auch wurde, es reimte sich winter auf munter bei ihm. offensichtlich vergaß krah schlicht, dass seine flügel ihn nicht mehr trugen. im wintergarten war ohnehin kein raum zum fliegen, allenfalls für bescheidene hüpfer mit flatterhilfe.

aber wenn sein versuch eines flattersprungs das ziel verfehlte, machte ihn das nicht verzagt oder mürrisch. vielmehr übte er einfach so lange weiter, bis er den sprung schaffte. dabei half ihm die wohl angeborene zähigkeit und fertigkeit, das ziel auch dann zu erreichen, wenn er bloß mit dem schnabel halt fand und sich in einer art klimmzug hochziehen konnte.

nicht um eleganz und glanzleistung war es ihm zu tun. ihm genügte es, das angestrebte ziel überhaupt zu erreichen. mich erstaunte, mit welcher ausdauer und energie er sein ziel verfolgte, meist mit erfolg.

krah zeigte manchmal besondere turnerische fähigkeiten. sein schnabel ist, was kraft und ausdauer angeht, vergleichbar mit der hundeschnauze. wie ein hund sich festbeißen kann an einem begehrten fetzen, sodass er sich daran in die luft heben lässt, so auch krah.

aber er kann noch ein weiteres kunststück, das ihm kein hund nachmacht. krah kann nämlich eine richtige turnübung vorführen, indem er sich kopfüber mit den füßen an einem Ast festhält. bei dieser „affenübung“ bleibt krah ganz ruhig, als sei die auf den kopf gestellte welt vollkommen in ordnung. mit dem schnabel kann er sich dann an der „turnstange“ wieder hochziehen. eine ähnliche leistung wie beim verfehlen des angeflogenen ziels, wo krah nur per schnabelhebel halt findet und sich per „schnabelklimmzug“ nach oben bringt.

typische vogelfotos zeigen uns raben oder auch vögel allgemein mit vorliebe im profil bzw. in der seitenansicht. es ist die große ausnahme, mal ein foto en face oder in frontalperspektive zu entdecken.

mir ist diese tatsache bewusst geworden, nachdem ich krah einmal aus der nähe ins gesicht sah. auch seine beiden augen waren auf mich gerichtet. auf beiden seiten am schnabel entlang blickten sie mich an. ich habe den kontrollversuch noch nicht gemacht, aber glaube, dass die meisten vögel das nicht können. oder zumindest nicht genauso gut können. ein huhn oder ein ara wird wohl auch nach vorn etwas sehen können, aber wohl nicht so wie ein rabe.

zugleich hat der rabe wie alle vögel den vorteil, dass ihm die umgebung per panoramablick rundum gegenwärtig ist. wenn man weiß, mit welcher leichtigkeit ein vogel den hals wenden kann, wird klar, dass raben mehr sehen als menschen, ohne die schärfe des blicks überhaupt in betracht gezogen zu haben. ein autofahrender rabe - gebe zu, eine etwas ungewöhnliche vorstellung - brauchte gar keinen rückspiegel.

wahrscheinlich, weil menschen sich nicht nur schräg von der seite ansehen, sondern bewusst in die augen schauen, erlebte ich den blick mit beiden augen krahs als etwas besonderes. ich sah, dass krah mich ansah. das hatte etwas unrabisches, obschon es doch so rabisch war. doch war der unübliche blick in die rabenaugen etwas neues und überraschendes für mich. es vermenschte krah irgendwie, wenn auch nur für den augenblick.

die scharfen augen und das unterscheidungsvermögen der raben sind allgemein bekannt und anerkannt. so beklagen jäger die fähigkeit der krahs, sie als gefährliche knallköppe zu erkennen und klar zu unterscheiden von spielenden kindern oder bauern bei der feldarbeit. ablesbar an der einhaltung größerer oder geringerer abstände.

genauso hat es sich herumgesprochen, dass krahs in der obhut des menschen sich vor fremden fürchten, die sie klar unterscheiden von den vertrauten personen. ich habe bei krah die gleichen verhaltensweisen oft beobachten können und hier beschrieben.

was mich aber dann doch irritiert, ist die schreckhaftigkeit vor größeren gegenständen wie etwa dem liegestuhl, den meine schwester im garten bewegte. ein längeres kantholz, das ich auf der veranda montierte, löste bei krah ebenfalls die fluchtreaktion aus wie ein mehrere meter langes aluprofil, das ich im garten von A nach B trug. drei eigenschaften genügten, krah zu beunruhigen und zu ängstigen: die gegenstände mussten neu für ihn sein und/oder relativ groß. (ausnahme: erdnüsse.) und natürlich mussten sie bewegt werden. eine lange leiter, die an der wand lehnt, „lebt“ sozusagen nicht und ist darum harmlos, wenn sie überhaupt als separater gegenstand wahrgenommen wird.

als ich aber einmal nichts ahnend nach dem duschen ein handtuch auf dem kopf wie eine art turban trug und so zu krah auf die veranda ging, verblüffte mich seine schreckreaktion, die ich im ersten augenblick nicht verstand, weil ich den „turban“ vergessen hatte. krah hatte sich doch längst an verschiedene kopfbedeckungen bei mir gewöhnt, vom altmodischen hut bis zur mehr oder weniger unauffälligen kappe.

der „turban“ unterschied sich wohl zu offensichtlich von allem, woran krah gewöhnt war, obschon allein die größe nicht nennenswert vom hut abwich. was mich irritiert, ist die ganz geringe abweichung vom gewohnten bei gleichzeitiger vertrautheit mit der person, die mit diesem „kopfschmuck“ erscheint. als ich das handtuch ablegte, war krahs angst sofort verflogen. ich halte es für wahrscheinlich, dass krahs unterscheidungsvermögen noch genauer registriert, wo und wie etwas für ihn neues vorkommt.

andere schuhe etwa lösten nicht vergleichbare ängste aus. ebenso der wechsel des oberhemds.

an meine fahrradmontur mit sonnenbrille etc. musste krah sich aber erst gewöhnen. samt fahrrad, dem erschreckend großen gegenstand, das versteht sich.

von meinem „schrecklichen“ turban ist es nicht weit zum kopfschmuck muslimischer frauen, der nicht nur hierzulande in der bevölkerung ähnliche reaktionen auslöst, wie mein turban bei krah. das jüdische käpperle ist dagegen eigentlich recht unscheinbar, löst aber ebenfalls irritationen aus. es liegt wohl im gesellschaftlichen miteinander an der symbolischen aufgeladenheit des kopfschmucks, dass es regelmäßig streit und diskussionen darüber gibt.

trotzdem erkenne ich auch eine parallele zu krahs angstreaktion auf meinen "turban". kann es sein, dass aufmachungen am oder auf dem kopf besonders wirken, bei mensch und rabe? es ist ja bekannt, dass herrscher und das personal im herrschaftsdienst meist auffallende kopfbedeckungen tragen, von den goldenen kronen bei den oberhäuptern abgesehen. da unsere augen sich bevorzugt aufs gesicht des anderen menschen richten, ist es nahezu unmöglich, den kopfschmuck zu übersehen. er hat darum leicht eine signalwirkung, die natürlich gern von interessengruppen genutzt wird.

hunde sehen dem herrchen oder frauchen ins gesicht. das wird in der regel als angenehm empfunden bzw. als grad der vermenschlichung. wenn mein krah mir aber auch ins gesicht sah, war das dann nur zufall oder schon ausdruck der domestizierung?.

umgekehrt ist dann das gezerre um das kopftuch der muslima etwas rabisches am menschen. ornithologen sprechen von der neophobie des raben, wohingegen in den disputen über das kopftuch von xenophobie gesprochen wird. das neue ist dabei nicht immer das gleiche wie das fremde.

als in den 50er und 60er jahren allmählich frauen immer öfter in langen hosen (wie männer gekleidet) zu sehen waren, löste diese mode laute ablehnung im konservativen lager aus. schülerinnen war es verboten, so zum unterricht zu erscheinen. tanzlokale sperrten die „männlich“ verkleideten damen aus.

an vielen schulen kam es aber zu einem winterlichen kompromiss. die langen hosen waren erlaubt, wenn darüber ein rock getragen wurde.

die traditionalisten benahmen sich ersichtlich wie mein krah, wenn er einen schrecken kriegte, weil ich mit etwas auf dem kopf auftauchte, das er als krass empfand. bezeichnend für das verhalten von raben und menschen ist, dass etwas stört, was bei anderen raben und menschen kaum wahrgenommen, jedenfalls nicht wichtig genommen wird.

rabe ist ein altehrwürdiger name für das tier, das in vielen märchen und fabeln eine rolle spielt. warum der große rabe aber hochoffiziell „Kolkrabe“ heißt, weiß niemand. es geht hier mal wieder um einen fall von "volksetymologie". will sagen, dass sich jemand etwas gedacht hat, was leider daneben war. volksgeist eben. reimt auf daneben.

noch vor gut hundert jahren lautete der offizielle name für den großen raben „Edelrabe“, in klammern gefolgt von „Kolkrabe, Steinrabe, Galgenvogel“. als dann ein paar jahre später der edelrabe mit dem kaiser in der versenkung verschwand, rückte der kolkrabe aus der reserve offiziell nach. laut gegenwärtigem duden soll der nun gültige name lautmalerisch zu verstehen sein. doch das ist so wenig überzeugend wie der edle galgenvogel.

anderen unsinn über die bezeichnungen hält wikipedia bereit, wo es um die namen der raben und krähen geht: „Raben und Krähen bilden zusammen die Gattung Corvus in der Familie der Rabenvögel (Corvidae). Die größeren Vertreter werden als 'Raben', die kleineren als 'Krähen' bezeichnet.“

demnach wären die eichelhäher als krähen zu bezeichnen. sowas kann nur schreiben, wer keine ahnung hat.

wie im fall der grasmücke. das vögelchen kann nichts dafür. es hat nichts mit mücken und noch weniger mit gras am hut. irgendein ahne ohne ahnung schnappte den namen des vogels mehr halb als ganz auf, machte sich einen reim darauf, und schon hieß das vögelchen grasmücke. dass so jemand keine ahnung hatte, um wen oder was es ging, kann vorkommen. es sind ja nicht alle sprachteilnehmer jederzeit voll wach und kompetent. dass aber dann die übrigen angehörigen derselben sprachgemeinschaft einfach nachplappern, was ihnen falsches oder unverstandenes vorgeplappert wird, ist das schlimme, das folgen hat.

dass „Frau Nachtigall“ nach „Volksglauben“ so schön singen kann, hat einen anderen grund. den liefert diesmal die grammatik. viele vögel sind im deutschen nun mal weiblich, unabhängig von ihrem biologischen geschlecht. die taube, die möwe, die schnepfe, die eule, die lerche usw. daran lässt sich so schnell nichts ändern. man sollte es aber wissen. und sich nicht zu schlussfolgerungen im Sinne der „Frau Nachtigall“ mit der schönsten stimme verleiten lassen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden