das rabentagebuch (18).

mein rabe krah. s.o.

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18 der rabe im wal

rabe kann zweierlei bedeuten. zuerst steht es für den großen raben, sodann auch für rabenvogel allgemein. also elster, eichelhäher, dohle und krah hierzulande.

anders als die kleineren raben sind die großen auch in extrem kalten und extrem heißen ländern verbreitet. so kennen auch die arktiker den raben aus unmittelbarer anschauung und aus erzählungen. eine fabel der inuit verrät etwas über raben und menschen. sie darf darum hier nicht fehlen.

ein übermütiger rabe flog eines tages sehr hoch. dass er längst das land unter sich verlassen hatte und hoch über dem weiten meer seine flugkunststücke trieb, merkte er erst, als er nach stunden allmählich müde wurde und nach einem rastplatz ausschaute. doch nirgendwo konnte er land oder auch nur eine eisscholle entdecken.

je müder er wurde, desto niedriger flog er über den meereswellen dahin. als dann plötzlich ein riesiger wal vor ihm auftauchte, war der rabe so verwirrt, dass er direkt ins offene maul des wals hineinflog.

sofort wurde es stockfinster um ihn herum, und er hörte glucksende und schwappende geräusche. sein glänzendes gefieder verschwand in einer heißen suppe aus blut und speck. das bekam den federn gar nicht. sie fielen ab wie die blätter von den herbstbäumen. der rabe war nahe daran zu ersticken und sah sein ende gekommen, als er in einen raum geworfen wurde, der angenehm warm und hell war.

es brannte ein öllicht, um das sich eine junge frau kümmerte, die auf der schlafbank saß. als der rabe hereinpurzelte, begrüßte sie ihn freundlich und hieß ihn als ihren gast willkommen. nur eines sollte er ihr versprechen: dass er niemals die lampe anrühren würde.

der rabe, der froh war, dass er noch lebte, erklärte sogleich, dass er sich auf keinen fall mit der lampe befassen würde.

ihm war gleich aufgefallen, dass die junge frau sehr unruhig war. kaum saß sie einen moment auf der bank, als sie auch schon wieder aufstand und zur tür hinauslief. und wenn sie nach kurzer zeit wieder ins zimmer zurückkam, setzte sie sich nur kurz hin, um anschließend schon wieder durch die tür nach draußen zu verschwinden. und so immer weiter, in einem dauernden hin und her.

dem raben, der allmählich seine fassung zurückgewann, drängte es, sie zu fragen, warum sie so unruhig unterwegs war. die antwort fiel etwas allgemein aus. das mädchen sagte, seine tätigkeit habe mit dem leben zu tun und mit dem atem.

der rabe verstand nicht, was sie sagte, wollte aber nicht weiterfragen, um nicht unhöflich zu sein oder für begriffsstutzig zu gelten. er sah sich um und fühlte sich schon fast wieder behaglich in dem raum, der sehr gut eingerichtet war und einer menschlichen wohnung glich.

je besser er sich aber fühlte, desto stärker interessierte ihn die flamme der kleinen öllampe und der grund, warum er abstand zu ihr halten sollte. jedesmal, wenn die junge frau wieder verschwand, nagte die neugier an ihm. am ende hielt er es nicht länger aus, und als er wieder allein war, rückte er auf der bank etwas näher an die lampe und tippte nur eben den docht mit der schnabelspitze an.

in dem augenblick stürzte das mädchen wieder herein, fiel der länge nach auf den boden, und das licht erlosch.

er selbst wurde in der dunkelheit wieder hin und her geworfen. er fiel wieder in die heiße suppe, die den größten restteil seiner federn verschmorte.

erst jetzt wurde ihm klar, was geschehen war. das mädchen war der lebensgeist des wals. sie huschte jedesmal nach draußen, wenn der wal atem holte. und ihr herz war ein öllicht mit stetiger flamme.

aus purer neugier hatte der rabe ihr herz zum stillstand gebracht, so dass sie sterben musste. ihm war nicht bewusst, dass das schöne immer auch fragil ist. denn er war ja nur ein verwirrter rabe.

und so kämpfte er nun in sud und dunkelheit wieder ums überleben. alles, was einmal schön und rein gewesen war, stank jetzt und war ein dreck.

doch bevor er wieder zu ersticken drohte, kämpfte er sich auf demselben weg, über den er hereingestolptert war, aus der glucksenden dunkelheit zurück ans tageslicht. so stand er zum schluss auf dem kahlen rücken des toten wals. ein ziemlich nackter rabe, dessen flügel im verdauungssaft des wals so gelitten hatten, dass sie zum fliegen nicht mehr taugten. immerhin hatte er mehr als genug zu fressen auf dem größtmöglichen aas.

wind und wellen trieben den walkadaver mal in die eine, mal in die andere richtung. nach einigen tagen kam land in sicht. schon sah der rabe, dass menschen das treibgut entdeckt hatten und in die umiaks stiegen, um die lohnende masse fleisch und speck zu sichern.

da verwandelte er sich in einen menschen, ein unansehnliches verwittertes männlein, das selbstverständlich kein wort verlieren würde über das geschehene, dass er etwas kostbares zerstört hatte, als er sich am herz der jungen frau vergriff. stattdessen pumpte er sich mächtig auf und krächzte in größtmöglicher lautstärke:

„ich habe den wal hier getötet!“

und er wurde ein großer mann unter den menschen.

dass der rabe durch die mangel der menschlichen phantasie in sehr unterschiedlichen weltregionen geht und trotzdem im ergebnis zum verwechseln ähnlich erscheint, kann kein zufall sein. der held auf dem rücken des toten wals in arktischen gewässern könnte der bruder von hans huckebein im land der niedersachsen sein. ein wesentlicher unterschied bei aller übrigen übereinstimmung ist der umstand, dass der unglücksrabe hans huckebein verunglückt, während er in der inuitfabel zu höchsten ehren aufsteigt. dieses happy end verdankt der rabe aber nur der ein wenig tierfreundlicheren haltung der inuit.

im übrigen gleichen sich die bilder doch sehr. busch zeichnet huckebein wie ein schwarzes huhn mit einem viel zu großen schnabel, das schon gerupft ist, um anschließend gekocht oder gebraten zu werden.

der bekannte zeichner und reimer wilhelm busch bleibt an der oberfläche des raben, denn offensichtlich ahnte der karikaturist nicht, dass ein rabe unter dem äußeren federkleid, das ganz schwarz ist, noch ein zweites kleid darunter trägt, das hellgrau bis fast weiß ist. das kann man nicht wissen, wenn der vogel nicht wirklich interessiert, sondern nur das bekannte image des durch und durch nachtschwarzen galgenvogels. busch hat die mauser des raben nicht miterlebt, schon gar nicht aus nächster nähe. überhaupt war dem meister gar nicht daran gelegen, ein bild des raben zu zeichnen, das realistisch war.

das federkleid des arktischen raben in der inuitfabel blieb andrerseits im verdauungssaft des wals auf der strecke.

in beiden fällen verliert der rabe mit den federn die flugfähigkeit, wodurch er auf das menschliche maß des flügellosen zurechtgestutzt dasteht. der kunstflugfähige heruntergebrochen zum humpelnden huhn.

keine andere eigenschaft des raben rührt mehr an die eitelkeit des menschen als das, was otto lilienthal die fliegekunst nannte. was hat der mensch sich nicht alles einfallen lassen und zum teil in die tat umgesetzt, um sich von der erdenschwere loszureißen!

was wir aus der überlieferung dazu wissen, hat es unendlich lange gedauert, bis aus der großen sehnsucht und anstrengung der menschen, sich wie ein vogel aufschwingen zu können in die räume des lichts und der wolken, etwas wurde.

lilienthals vorbild für seine flugversuche war nicht der rabe, sondern der storch. er hat sein leben dafür aufs spiel gesetzt, um bei ein paar kleinen hüpfern von einem hügel herab sich sekundenkurz schwebend wie ein storch! -in der luft halten zu können.

von fliegekunst zu sprechen ist schon so vermessen und propagandistisch übertrieben, dass mensch sich damit nur lächerlich macht. denn was mensch so hochtrabend und prahlend fliegen nennt, ist in wahrheit doch nichts anderes als wasserski: was beim wassersport die bretter, sind beim luftsport die tragflächen. auf denen rutscht man durch die luft. bescheidener geben sich die balloner, wenn sie vom fahren durch den luftraum sprechen. bei ehrlicher betrachtung der leistungen in der luftfahrt kann wirklich von fliegen gar nicht die Rede sein. und das weiß der mensch im grunde seines herzens. ein motiv, warum dem raben nicht nur die federn ausgerupft werden, sondern auch diese unnachahmliche fähigkeit des fliegens geneidet wird.

flugplätze sind bahnhöfe für luftreisende. wenn so eine lokomotivenschwere maschine in die luft gedonnert wird, brüllen die motoren auf der bahn nach oben vor unvorstellbarer anstrengung.

was huckebein und den arktischen raben so menschenähnlich macht, ist aber nicht nur das unglück der erdenschwere. es ist zudem die kombination aus übermut, gedankenlosigkeit und neugier, die mensch und rabe, aber mehr doch dem menschen stets zum verhängnis wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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