das rabentagebuch (23).

mein rabe krah. s. o.

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23 schrecken und folgen

in jenen tagen war ich damit beschäftigt, die photovoltaik-anlage für den winter zu rüsten, unter anderem mit neuer nachführtechnik. mein nachbar half mir tatkräftig, zum beispiel bei der umsetzung eines stahlrohrs von einem halb verschatteten platz an einen schattenlosen. in zwei fällen war es nötig, das tragende stahlrohr zu verlängern. mein nachbar übernahm die schweißarbeit.

als das stahlrohr vor der veranda an der reihe war, erschien der nachbar mit einer großen knallroten werkzeugkiste, in der das schweißgerät lag. krah zeigte seine fluchtreaktion schon, als er die große rote kiste nur sah. ich war bei ihm und versuchte, ihn zu beruhigen. aber der mann mit der großen roten kiste stieg direkt vor der offenen verandatür auf die leiter. das ängstigte krah noch mehr.

nicht mehr zum aushalten war es dann aber für ihn, als die schweißarbeit begann und zum prasselnden geräusch ein funkenregen niederging. ich musste den raben sofort in meinen wohnbereich lassen, damit er sich wieder beruhigte. da blieben wir, bis theo fertig war und die leiter wieder herabstieg.

ich kannte die blankrote werkzeugkiste nicht, hätte sie aber auch wohl nicht als angstauslöser eingeschätzt. an den regen rotglühender funken während der schweißarbeit hatte ich auch nicht im voraus gedacht. normalerweise haben die funken nur einen kurzen weg bis zur erde, wo sie erlöschen. in diesem fall aber fielen die glühenden tropfen von dachhöhe herab und erinnerten ans silvesterfeuerwerk. das war ein schreckensgrad zu heiß für meinen krah. zum glück dauerte die operation nicht lange, und krah konnte sich erholen.

zwei tage später, am neunten oktober, kam es noch dicker. während ich auf dem dach zu tun hatte mit der installation der nachführung, war mein nachbar wieder hier, um sich die trackingtechnik genauer anzusehen. obwohl ihm gar nicht gefiel, dass ein modul irgendwie unmöglich schräg im wind hing, dachte er daran, für sich im eigenbau so eine anlage in den garten zu setzen. er malte sich schon aus, wie das werk aussehen und funktionieren könnte.

ich hörte wohl, dass noch jemand dazukam, sah aber nichts, weil ich gerade alle hände voll zu tun hatte auf dem dach. es war meines nachbarn freund, den ich auch gut kenne und der in der nähe wohnt. für krah aber keine nette abwechslung, sondern neuer stress. er verließ seinen raum, die veranda, nicht, weil er sich da am sichersten fühlte.

dumm nur, dass der bekannte seinen hund bei sich hatte, nolle, den münsterländer jagdhund. eine schon ältere hundedame, die keinem etwas zu leide tut. das ahnte aber krah nicht, und ich sah es nicht, wie krah geängstigt war. alle waren ganz ruhig. die männer wechselten nur wenige worte, dann gingen sie.

erst als mein nachbar mitsamt bekanntem und hund abgezogen war und ich vom dach herab wieder die veranda aufsuchte, merkte ich, dass mein rabe nirgends zu sehen war. ich rief ihn. keine reaktion. sollte er doch vor schreck in den garten geflüchtet sein? und womöglich vor angst noch weiter wie vor wochen auf der flucht vor meiner schwester?

durch zufall oder wodurch auch immer hob ich den blick und sah meinen raben oben über der tür zur wohnung auf dem weißen rolladenkasten.

was für eine angst muss er ausgestanden haben, dass er sich in seiner not auf den äußersten fluchtpunkt gerettet hat?

erst dann wurde mir klar, dass krah nur fliegend seine rettungsinsel erreicht haben konnte. eine neue glanzleistung. denn er musste von unten nach oben geflogen sein. eine flugleistung, die er vor über einem jahr zuletzt gezeigt hatte. leider von angst getrieben, nicht aus freien stücken. darum konnte ich mich nicht richtig über seine neue fliegekunst freuen. und doch war es unleugbar, dass krah in seinem neuen schmucken anzug nicht bloß nach unten fliegen konnte wie vor drei tagen von der leiter. nein, er konnte nach oben fliegen mit der neuen kraft seiner flügel. es machte mich glücklich und unglücklich zugleich.

natürlich rief ich ihn herunter von seiner zuflucht und beruhigte ihn und versuchte, mich zu entschuldigen. vergeblich. denn ich hatte meinen krah sich selbst in der subjektiv größten gefahr überlassen, ihn im stich gelassen, sodass er sich selber helfen musste. aber das hatte er dann mit bravour geschafft. mein großer krah.

der alles entscheidende folgetag, der zehnte oktober, schloss inhaltlich folgerichtig an die ereignisse des vortags an. am späten vormittag stieg ich wieder mit krah auf dem arm auf die leiter am turm. und es fühlte sich an wie bei den vorigen aufstiegen. krah war aufgeregt, angespannt gingen seine blicke hierhin und dahin. und seine flügel zuckten. aber seine stimme ließ er heute nicht hören.

wir hatten noch nicht lange die oberste sprosse erreicht, da löste sich krah von meinem arm und flog, nein, nicht wieder nach unten, flog geradeaus, flog immer weiter geradeaus, als wäre das ganz selbstverständlich, ab und über die gartenhecke hoch hinweg und nahm kurs auf die große esche.

das hatte er gut erkannt. in mittlerer höhe lud ein weit ausladender, offener und fast horizontal ragender ast zur landung ein. und krah hielt kurs darauf zu und war schon gelandet, eh ich so ganz begriffen hatte, was vorging. der rabe im fertigen neuen federkleid flog aus, verließ zum zweiten mal in anderthalb jahren sein zweites nest und war auf dem weg in die große rabenfreiheit.

doch besser als bei seinen ersten ausflügen im vorigen jahr irrte er nicht ziellos in der luft herum, sondern wusste genau, wohin ihn seine flügel tragen mussten.

es gab kein anzeichen von fremdeln, als Krah die gartengrenze überflog und sicher in der offenen esche fuß fasste. aber für mich war das gefühl ganz neu, krah „draußen“ zu sehen, hoch in der „fremden“ esche.

ich stieg schleunigst die leiter hinab und rief meinen krah. ich rannte aus dem garten und stellte mich an die straße unter den baum, in dem mein rabe saß und blieb, so oft ich ihn auch rief. er hatte sich entschieden. er war frei. hoch über den flügellosen war er sicher vor ihnen und ihren unbegreiflichen schrecknissen.

vielleicht erging es krah ähnlich wie mir, nur anders herum. auch er musste erst einmal erfassen, was geschehen war, wo und wie er sich befand. zwar reagierte er auf meine rufe, indem er sich auf dem ast unruhig bewegte, aber von ihm sich zu lösen, war nicht möglich. er blieb, wo er war.

als ich das verstanden hatte, zumindest halbwegs, verließ ich die szene, kehrte in meine hütte zurück und ließ das geschehene auf mich wirken.

nach vielleicht einer halben stunde ging ich wieder zur straße, wo ich krah noch stets auf dem baum seiner wahl, der hohen offenen esche, fand. doch hatte er sich von dieser seite an der straße weg ein stück weit auf die gegenseite bewegt, weg von der Straße, auf der gelegentlich autos fuhren. die andere seite versprach ruhe. dort dehnte sich weit das offene feld.

zwischen straße und wallhecke fließt ein tiefer breiter bach. wenn ich auf die andere seite wollte, musste ich erst der straße bis zum wald etwa zweihundert meter weit folgen, um dort die bachbrücke zu überqueren, nach rechts dem nebenbach am waldrand folgen und dann den nebenbach überspringen, um am ackerrain entlang parallel zur straße wieder die esche auf der feldseite zu erreichen.

krah kam wie selbstverständlich zu mir herab und ließ sich ein stück weit tragen. aber die längste strecke in richtung wald zurück lief er brav neben und hinter mir her.

am feldende vor dem wald wurde es schwierig, durch wildwuchs und über den nebenbach zu kommen. mit erstaunlich viel geduld und folgsamkeit überwanden wir das alles, auch den nebenbach und gingen zum waldeingang und zur straße zurück.

mein ziel war offensichtlich, krah wieder heimzuholen. ich wollte zurück, obwohl krah mir doch gezeigt hatte, dass er anders entschieden hatte.

die zweihundert meter straße, so offen sie auch vor uns lagen, erwiesen sich als ebenso unüberwindlich wie krahs wille. ein herannahendes auto jagte krah über den graben zurück in die wallhecke auf der anderen bachseite. er flog und floh und blieb, wo er war.

am späten nachmittag sah ich noch einmal nach. ich fand ihn wieder auf der ruhigen feldseite der wallhecke, wo er es sich auf einem daumendicken ast bequem gemacht hatte, der waagerecht aus dem gebüsch ragte. mit blick auf die kommende nacht war mir sein neues quartier zu unsicher, nur etwa einen knappen halben meter über dem erdboden. aber auch eine weinbeere konnte ihn nicht dazu bewegen, seinen platz zu verlassen. er blieb, wo er war.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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