25 dritter und vierter tag in freiheit
heute fand ich krah etwa hundert meter weiter nach osten am waldrandbach umgezogen, in ca. drei meter höhe im geäst kleiner nachwuchsbäume. er sagte nichts, kam aber bald über den graben heran, und als er die futtertüte sah, zeigte er lebhaftes interesse, wollte er etwas haben. er aß alle drei weinbeeren, aber kein fleisch. von den erdnüssen ließ er sich ein paar fitzelchen gefallen. das tomatenstück legte er ab. dann putzte er sich auf dem dicken baumstamm, der da am boden lag.
als ich gegen mittag wieder in den wald ging, saß krah fast noch an der gleichen stelle wie am morgen. auf der waldseite des baches. er kam gleich auf mich zu getrippelt. zuerst gab ich ihm wasser aus einem kleinen schälchen. er trank viel. nahm dann die erste himbeere etc. als ich wieder ging, hockte er auf der wurzel eines baumstubben.
am nachmittag musste ich ein wenig suchen, bis ich krah auf der anderen grabenseite entdeckte. er flog, ja, er flog über den bach auf meinen arm. und steckte sein köpfchen ins glas mit wasser. er nahm wieder ein paar gute züge. da ich die tüte mit den wein- und himbeeren vergessen hatte (weil meine schwester just in dem moment anrief, als ich gerade im aufbruch war und die jacke erst halb angezogen hatte) lief ich zurück und holte das tütchen. er schluckte die weinbeeren, die himbeeren ließ er weg. sein platz war nahe dem waldeingang an der stelle, wo ein baumstamm den nebenbach überbrückte.
am abend hatte er sich vom bach waldeinwärts entfernt. ich fand ihn im wildwuchs aus sehr alten und ungewöhnlich hohen holunderbüschen. ihre stämme leuchteten großenteils vom grünen moos. zum teil waren die äste und stämme des holunders morsch und weiß gefleckt vom schimmel.
so hoch über der erde hatte ich krah noch keinmal angetroffen. dass er höhepunkte liebte, war schon bekannt. er beeilte sich aber, herunterzusteigen, kam zu mir. er hatte offensichtlich appetit. auch sogar auf fleisch. zuletzt half ich ihm zurück in die höheren etagen der holunderzweige.
übrigens flogen hoch über den wipfeln der waldbäume ein, zwei krahs der revierkrähen vom großen feld nebenan, die krah warnten vor mir, als ich kam. so verstand ich zumindest ihre rufe direkt über seinem neuen aufenthalt.
bei dauerregen hockt krah noch auf demselben ast wie gestern abend. oben im hohen obergeschoss des holunderstrauchs. erst als ich sozusagen im parterre das wasserschälchen gefüllt und die tüte mit futter entknotet hatte, steigt der herr des holunders von stufe zu stufe im gezweig herab, um gnädig eine weinbeere und zwei häppchen fleisch zu schlucken. danach steigt er spontan von ast zu ast zurück an seinen festen platz hoch oben.
mittags etwas neues: mit einem weithin vernehmlichen „krah“ begrüßt mich der herr der holunderburg. er ließ sich aber zeit mit dem abstieg, um ein wenig fleisch zu nehmen. die weinbeeren ließ er fallen – bis auf eine. zum trinken war ihm nicht bei dem dauerregen. als ich ging und er bereits oben an seinem höhepunkt angelangt war, sagte er mir zum abschied freundlich (kr)a(h)dé.
am frühen nachmittag begrüßte mich krah schon von weitem, sobald er mich sah, mit einem zweifachen kraha. so willkommen fühlte ich mich noch nie im wald. vom hohen holunder hatte krah einen weiten ausblick. der platz da oben hatte es ihm angetan. er verließ ihn auch nur ungern und zögerlich. kam aber schließlich herab und aß vom fleisch, den beeren und rosinen. vom wasser nahm er nur einen schluck.
am abend steigerte sich krah noch einmal, indem er mich gleich dreifach begrüßte. sein gruß vom wipfelauskuck der holunderburg bedeutete doppelte freude. dass krah in einer außergewöhnlichen Verfassung war, zeigte er unmissverständlich, nachdem er seinen balkon verlassen hatte, um seine mahlzeit einzunehmen. er verbeugte sich wiederholt und ließ helle u-laute ertönen.
rosinen aß er heute besonders gern, aber auch das fleisch verschmähte er nicht. zum nachtisch eine oder zwei weinbeeren. nach dem mahl begab er sich wie üblich zurück und hinauf an seinen bevorzugten platz auf dem oberen ast, den er auch am nachmittag wieder aufgesucht hatte.
mein eindruck ist, dass krah sich so wohlfühlt wie schon lange nicht mehr. ich halte es für möglich, dass er sogar glücklich ist. dafür sprechen einige indizien. er irrt nicht mehr in der fremde umher, sondern hat einen festen platz gefunden, der ihm gefällt. wo er sich sicher fühlt und wo er einen höhepunkt nach seinem geschmack besitzt, von dem aus er die nähere umgebung im Uumkreis von gut hundert metern im blick hat und von dem er notfalls abfliegen kann. die gruppe aus uraltem holunder und wildwuchs gibt ihm wohl auch das gefühl relativer geborgenheit.
mir ist ja gleich aufgefallen, dass krah seine aufenthalte draußen mit sicherem instinkt auswählt. besonders sein sicheres plätzchen im dornbusch mit rot leuchtenden früchten in der morgensonne stand in starkem kontrast zu meiner besorgnis am abend davor, als ich krah in gefährlicher bodennähe gefunden und verlassen hatte.
für ein gutes gefühl, zumindest für eine heitere stimmung spricht auch die laute begrüßung und verabschiedung, die mir krah entgegenbringt. so verstehe ich nun auch das seltsame ritual seiner verbeugung mit deutlichen u-tönen in unmittelbarer begegnung als etwas positives.
so ist krah jetzt das gegenbild zum unglücksraben huckebein. erlöst und weitgehend befreit aus der verstrickung in die welt der flügellosen, kann er jeden augenblick seiner existenz genießen. kann seine lust zu sehen aus den äußersten verästelungen seiner herberge heraus und herab schätzen. kein jäger in der schießbude, auch wenn er mit dem besten fernglas bewaffnet ist, kann soviel und so genau beobachten und verfolgen wie krah in seinem selbstgewählten hochsitz.
es ist die freude des neuen lebens, die krahs glück bestimmt. endlich ist er mit der natur im einklang, die für ihn wie gemacht erscheint. er ist der schlüssel im schloss.
seine begrüßungs- und abschiedsrufe brauchen keinen dolmetsch. sie sind aus sich heraus so verständlich wie ein lächeln. natürlich habe ich jedesmal freudig geantwortet.
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