das rabentagebuch (27).

mein rabe krah. s. o.

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27 vorletzter eintrag im rabentagebuch

als ich heute mittag auf dem dach zu tun hatte, von dem aus die sicht in nachbars garten frei ist, so dass es öfters zum wortetausch kommt, wenn theo zur selben zeit im garten ist, sagt er mir, dass er gestern krah gesucht und gefunden habe. raben und menschen sind in der regel neugierig.

um 15 uhr nichts auffälliges. krah grüßte vom selben holunder herunter wie am morgen. er aß seine normale portion, und anschließend begab er sich wieder hinauf in seine gemächer.

am abend kam mein nachbar mit. er wollte die fütterung gern einmal sehen. und obwohl theo sich beim zuschauen auf abstand hielt, hatte krah ihn natürlich längst entdeckt und kletterte etwas nervös durchs geäst herab, verfehlte einen zweig, rutschte, verlor den halt und sauste flatternd senkrecht zu boden.

war das der berühmte vorführeffekt? krah sprang wie heute mittag auf meinen arm und holte sich sein futter. danach stieg er wie gewohnt in die höchsten zweige auf.

theo fragte beim heimgang, ob ich krah nichts zu trinken bringe. eine gute frage. ich hatte das wasser nach den regentagen, an denen krah keinen durst zu haben schien, wieder vergessen. das machte mir sorgen. ich war ein schlechter versorger.

heute morgen dauerte es lange, bis krah sich in bewegung setzte und die zweigeleiter herunterstieg. als erstes gab ich ihm einen schluck wasser. ausgesprochen durstig schien er aber nicht zu sein. hungrig auch nicht. wahrscheinlich hatte krah längst den mann mit hund gesehen, den ich erst bemerkte, als ich schon den matschweg am graben erreichte. es war einer der ferneren nachbarn, der näher zum wald hin wohnt.

heute mittag wartete ich erst den postboten ab, ehe ich zu krah ging. es war schon zwei uhr geworden. aber offensichtlich hielt es krah mit der pünktlichkeit nicht so genau. er benahm sich nicht anders als sonst. saß hoch oben, als ich kam, und stieg bald herab. doch er blieb länger als gewöhnlich am boden. da nahm ich ihn auf den arm und ging los in richtung straße.

offenbar hatte ich noch immer nicht begriffen, was geschehen war, dass ich mich mit krah auf den rückweg begab. aber die zweihundert meter lange straße vom wald bis zu meinem garten war zuviel. das erste auto näherte sich, als wir die halbe strecke gelaufen waren. krah sprang vom arm. weitere autos folgten, wobei krah sich beruhigend vernünftig am straßenrand hielt. es hatte keinen sinn. es gab zuviel störungen auf der kurzen strecke. und krah zeigte mir, dass er nicht zurück wollte.

also nahm ich krah wieder auf den arm und trug ihn zurück in den wald. eine kleine strecke rannte er auch neben mir her. es war eindeutig, dass er zurück wollte. in die gegenrichtung lief er nicht so willig mit. krah gab mir zu verstehen, sein zuhause sei nicht mehr die hütte, sondern der wald.

am waldeingang führt eine betonbrücke über den hauptbach. krah untersuchte die bohrlöcher im beton, die beim neubau wohl für ein geländer gedacht waren, das nie installiert wurde.

er fand wasser darin, das ihn interessierte. nicht als trink-, sondern als badewasser. das sah ich an seinen reaktionen. den schnabel tauchte er ins Wasser und zeigte dann die bewegungen an hals und flügeln, die ich vom badebeginn her bei ihm kenne. krah zeigte mir so, dass er gern mal wieder planschen würde.

der bach unter der brücke strömte halbvoll mit erhöhter geschwindigkeit. aber den bach mit mäßigem hochwasser sah krah nicht als planschgelegenheit. die ufer waren auch viel zu steil, und das wasser war zu tief. ich überlegte, wie ich ihm zum bad verhelfen könnte. indessen waren wir zurück im holunderbezirk, und krah stieg in seinen turm.

es muss einen grund haben, dass krah kaum mehr fliegt. gestern, als der nachbar zuschaute, der immer behauptet hatte, krah werde nie wieder fliegen, stürzt er aus dem holundersitz ab wie ein huhn. flatternd senkrecht nach unten. krah hat doch vor zehn tagen bewiesen, dass er gut fliegen konnte, mindestens 20 meter weit, oben von der leiter in die esche im geradeausflug. oder sogar im leichten steigflug.

und bei seinen ortswechseln an den ersten tagen in wallhecke und wald musste er auch geflogen sein. nur im holunderpark wurde krah sesshaft und irgendwie flugfaul. ja, irgendwie unbeweglich. ich dachte, die stelle im wald habe er sich ausgesucht, weil es dort relativ ruhig ist, jedenfalls deutlich ruhiger als an der straße. und auch sicherer. und übersichtlicher von seinem obergeschoss aus.

kein hund, keine katze könnte ihn erreichen in seinem zweigegitter in fünf, sechs meter höhe über dem boden. sein instinkt hat ihn wieder gut beraten.

was aber hindert ihn zu fliegen? meine dohle kjack hätte es niemals so ausdauernd an einem punkt gehalten. sie wäre mir entgegengeflogen. hätte niemals geduldig gewartet, bis ich sie gefunden und gefüttert hätte.

krah musste noch immer ein flügelproblem haben trotz seines flugfähigkeitsbeweises, als er abflog oben von meinem arm auf der gartenleiter. aber er war nun praktisch ein jahr lang nicht mehr in die luft gegangen. seine organe, die muskeln, sehnen und gelenke waren wie nach einer langen krankheit ungeübt und darum kraftlos. wahrscheinlich spürte er jetzt sowas wie muskelkater. wenn ein läufer ein jahr nicht gelaufen ist, wird er sich nicht zum marathon anmelden. krahs sind den büchern zufolge streckenflieger. krah ist das bestimmt (noch) nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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