das rabentagebuch (28).

mein rabe krah. s. o.

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28 letzter eintrag im rabentagebuch

menschen sind flügellos, wenn sie keine phantasie haben. etwa nach einem schlaganfall. M hatte keine phantasieflügel mehr. ihr leben dämmerte nur noch so dahin. das heißt nicht, dass sie nichts mehr verstand, dass sie nichts mehr fühlte. ihr schmerz war ja, dass sie spürte, was ihr fehlte.

in der letzten woche vor ihrem tod sagte sie unvermittelt: ich mache mir große sorgen. als ich nachfragte, was für sorgen, sagte sie, ihre sorge sei, dass ihr gehirn nicht mehr funktioniere.

krahs flügel brauchen wohl eine pause, nach den plötzlichen anstrengungen vor angst, als der fremde mit dem hund vor der offenen verandatür erschien und tags darauf, als krah allen schrecken aus dem weg flog, abflog aus der menschenweltenge in die offene weite rabenwelt.

sein instinkt ließ ihn keinen tag länger ausharren, nachdem seine flügel in der mauser fast zu voller größe gewachsen waren. es war überraschend, trotz aller erwartungen und wünsche, ihn fliegen zu sehen. ohne sichtbare schwierigkeiten.

dass er dann sehr lange in der esche blieb, mochte ein hinweis darauf sein, dass der erste richtige flug noch zu ungewohnt und anstrengend war. wenn er wie im letzten jahr hemmungslos und übermütig sein flüggesein feiernd drauflosgeflügelt wäre, hätte er nicht so lange im ersten baum pausiert. er musste beim zweiten flüggesein achtsamer und schonender mit seinen schwingen umgehen. auch das sagte ihm sein instinkt, falls er nicht sogar schmerzen litt.

sein frohes grüßen und auch sein übriges verhalten lassen vermuten, dass krah nicht litt, sondern sich eine ruhepause gönnte vor dem tag, an dem er höher und weiter fliegen wird als je zuvor.

krah ließ sich zeit. ganz hoch oben hatte er wieder die nacht verbracht. als plötzlich ein graureiher vorüberflog, kriegte krah einen schrecken und schrie. endlich unten bei mir angekommen, trank und aß er ein wenig. kaum war ich an der straße, hatte er schon wieder die höchste etage in seinem holunderturm erreicht.

mittags waren die revierkrähen in aufruhr, und zwar über dem waldrand, wo krah seine bleibe hatte, und über dem waldnahen feld. ich fürchtete ernsthaft, krah könnte attackiert werden. ich war mit krahs badewanne und einer gießkanne voll wasser unterwegs zu ihm. obendrein hatte ich wieder mal vergessen, die gummistiefel anzuziehn. musste darum noch einmal umkehren.

als ich dann zur stelle war, saß krah friedlich und ruhig in seinem holundergezweig. und er ließ mich ungewöhnlich lange warten. erst als ich so tat, als würde ich wieder gehen, bewegte und meldete er sich mit deutlichem protest. er badete gründlichst und genoss die plansche nach elf tagen verzicht. das war die hauptsache, das essen nebensache. dann stieg er wieder auf zu seinen gemächern im obersten holunder.

heute abend nahm er viel fleisch, das ich soeben frisch vom metzger geholt. danach war ihm zum verweilen bei mir auf dem arm. ich streichelte krah mit blicken und redete mit ihm. schließlich sah er die zeit gekommen, hinauf in sein oberstübchen aus vielen zweigen zu steigen.

am 22. oktober hielt sich krah schon in armsprunghöhe auf, als ich bei ihm ankam. auf dem arm verzehrte er dann einiges von seiner tütennahrung aus fleischfitzeln, nüssen und beeren. sprang danach auf den bemoosten ast, vom dem aus er meinen arm geentert hatte, und stieg bald auf in seinem baumhaus. es nieselte.

vielleicht hatte krah es zu eilig, zu mir herabzusteigen, dass er in einer astgabel hängen blieb. er löste sich aber ohne probleme aus der umklammerung. bei mir angelangt futterte er zuerst und stieg zum schluss in seine plansche.

am mittag holte ich meine schwester vom bahnhof ab. sie besuchte mich für ein paar tage. und sie wollte natürlich auch den raben sehen.

meine schwester kam etwas zu nah an den holunderort, ehe ich unter seinem aussichtsturm angekommen war. krah blieb oben und schrie mit blick auf die fremde so panisch wie gestern, als der reiher über den wald flog. ich sagte meiner schwester, sie möchte doch größeren abstand halten. als sie das tat, setzte krah seinen abstieg in gang. danach war alles wie eh und je. krah nahm seine kleinigkeiten zum essen und zum schluss das obligatorische bad in seiner plansche.

am 23. oktober hatte krah es wieder gar nicht eilig herabzusteigen, als ich bei ihm ankam. aber auch als er schließlich unten bei mir war, nahm er sich mehr zeit als sonst. er trank aus seiner wanne, warf einen happen fleisch hinein, um ihn erst dann zu schlucken.

als ich am nachmittag wieder den waldeingang passiert hatte, hörte ich krah nicht grüßen. und auch am holunderort war er nicht. er blieb spurlos. keine feder. kein zeichen. nichts.

am selben tag und auch an den folgetagen war die suche nach krah ergebnislos. das holunderschloss lag verlassen und verwaist. ich habe meinen krah nicht wiedergesehn. er blieb, wo er war.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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