das rabentagebuch (3)

mein rabe krah. s.o.

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3 abstürze

doch am vierten morgen hörte ich ein poltern auf der veranda. ich hörte es und war auch schon durch die tür zur stelle und sah, dass krahs transportkorb vom hocker gepurzelt war und krah mit. er muss dabei einen derben schlag abgekriegt haben, vor allem am rechten bein, das jetzt lahmte. man soll den tag nicht vor dem abend loben.

aber krahs appetit ließ nicht nach. nur die herzstückchen schmeckten ihm inzwischen nicht mehr so gut wie am ersten tag. sie fingen auch schon an zu stinken. also kochte ich ein paar eier, um ihm ersatz zu beschaffen. er nahm aber nicht mehr als ein halbes ei pro mahlzeit.

heute konnte ich zum ersten mal beobachten, wie krah trank. artgerecht tauchte er seinen schnabel ins wasser, hob ihn dann wie jemand, der das glas zum toast hebt, und ließ das nass in seine kehle rinnen. das wiederholte er ein paar mal. mich freute die beobachtung, weil sie mir zeigte, dass krah schritt für schritt ein ganzer rabe wurde.

die große klinik, in der ich M, meine kranke partnerin, täglich besuchte, lag außerhalb der stadt. sie war im wald oder am waldrand vor zwei jahrzehnten gebaut worden, in einer landschaft, in der unter anderen krahs lebten. die weiträumige gartenanlage mit großem karpfenteich sowie die an wochenenden häufig große besucherzahl bei um die fünfhundert patienten versprachen den schwarzen gesellen nahrung. so waren sie dort einzeln oder auch paarweise täglich anzutreffen. da ich meist mandeln oder haselnusskerne in der tasche hatte für rabenvertreter, sollten sie mir über den weg laufen, ich aber nichts bei mir hatte, als ein krah uns draußen im park ganz nah an sich herankommen ließ, weil der kluge vogel längst gelernt hatte, dass rollstuhlgruppen vollkommen harmlos sind, legte ich anderntags ein paar nüsse auf die außenfensterbank vor M's einzelzimmer im vierten stock.

als ich heute zu besuch kam, sagte mir M gleich, der große krah sei bei ihr auf der fensterbank gewesen. dazu fällt mir erst jetzt auf, dass der eindruck des großen vogels so stark gewesen sein musste, dass er die blockade des kurzzeitgedächtnisses überwand, die durch den schlaganfall verursacht worden war. eine seltene ausnahme.

M sprach vom großen krah, weil sie überrascht war bei seinem ersten erscheinen in unmittelbarer nähe, wie groß er doch war im vergleich etwa zu einer dohle oder taube. ich legte noch ein paar nüsse nach; auch die waren nach unserer abwesenheit für die halbe stunde krankengymnastik verschwunden.

ich dachte, ich dürfte kein patient in der klinik sein, weil ich dann einen ganzen schwarm von krahs anlocken würde, bis die klinikleitung gegen das rabentheater einschreiten würde. ich bedachte nicht, dass nicht alle menschen ihre freude an raben haben, etwa weil sie als kleinkinder spielerisch das liedchen gelernt hatten:

hoppe hoppe reiter, wenn er fällt, dann schreit er,

fällt er in den graben, fressen ihn die raben ...

das schaukellied stammt aus zeiten, als reiter noch zum alltag gehörten und auch raben noch häufiger waren als heute. die botschaft, raben seien menschenfresser, bleibt hängen. denn was die fröhlichen väter dem raben abscheuliches anhängen, ist abscheulich genug, dass es dem kind lebenslang in erinnerung bleibt.

was das kleine kind nicht wissen noch ahnen kann, ist die verschleierung von untaten der flügellosen. grausame gerichtsverfahren mit galgen und folterwerkzeugen, aber auch grausame kriegszüge verschafften den unschuldigen aasfressern reichlich nahrung. davon ist die bezeichnung galgenvogel für den raben geblieben, vergessen aber und verschwiegen im lied die untat des henkers und des söldners. so steht am ende des tages der rabe als menschenfeind da. folge der feindbildpflege im kleinkindalter. wer noch einmal das liedchen anstimmt „ hoppe hoppe reiter“, sollte wissen, was er oder sie tut.

heute ist krah schon eine woche bei mir. ich rief die bekannte an, der ich den raben verdanke und sagte ihr, wie glücklich ich über den großen vogel bin. und wir bedankten uns gegenseitig für seinen umzug zu mir.

in der dämmerung war krah heute unruhig. er flog immer wieder kurz los, besonders in richtung sonnenblende; dabei verfing er sich in den alulamellen. ich musste ihn aus dem wirrwarr von fäden und lamellen befreien, in dem er sich verheddert hatte, und die blende so hochziehen, dass er keine neuen kunststücke mehr damit beginnen konnte. was ihn an dem lamellenvorhang reizte, weiß ich nicht. vielleicht das metallisch blanke. oder er hielt die lamellen für zweige, die er anfliegen wollte.

vorher war schon auffällig, dass krah alle fleischstückchen ausgewürgt hatte, die er bei der vierten und letzten mahlzeit geschluckt hatte. ihm gings wohl nicht gut.

birnenstückchen nahm er. will wohl vegetarier werden.

meine partnerin in der reha-klinik hat heute mittag wieder fast nichts gegessen. es gab schnitzel, obschon sie vegetarisches essen bestellt hatte. kommunikationsprobleme im großbetrieb.

dafür nahm sie in der kantine wie ich ein größeres stück kuchen.

als das junge paar mit mir zur fütterung krahs hereinkam sie hatten den raben noch nicht gesehen, aber von ihm gehört, und waren neugierig - traten sie respektvoll einen schritt zurück, als krah laut und deutlich an seinem lieblingsplatz am fenster auf dem mittelhohen bücherregel um futter bat. er breitete seine großen flügel aus und bewegte sie wie immer bei der fütterung heftig. so groß und so lebhaft hatten die besucher sich den jungvogel nicht vorgestellt. sein weit aufgerissener schnabel machte eindruck, als er seinen großen hunger stillte.

die besucher fremdelten nicht, zeigten nur, wie überrascht sie waren. krah fremdelte auch nicht, obschon er die leute noch nie gesehen hatte.

krah fliegt mir schon auf den arm, wenn ich ihn zur fütterung rufe. ich bin für ihn wohl so etwas wie ein kleiner baum mit zwei hauptästen, auf die er fliegt. und er zeigt dann die tendenz, weiter im baum aufzusteigen bis nach ganz oben. das heißt, er fliegt vom arm auf die schulter und von dort auf den kopf.

ich verstehe seinen drang zu höhepunkten und zum wipfel, möchte krah aber nicht so gern auf dem haar sitzen haben, weil ich ihn dann nicht sehen kann und er womöglich was fallen lässt.

ich stelle mir vor, wie krah mit seinen geschwistern auf dem nestrand herumturnte und einen hüpfer zum nächsten ast wagte, so vom nestling zum ästling mutierend, dann aber bei dem versuch, zum nest zurückzuturnen, die balance verlor und hilflos flatternd auf den waldboden purzelte. das war nicht ganz ungefährlich, weil er für streunende hunde und greifvögel eine leichte beute hätte sein können, wenn seine eltern ihn auch weiterhin fütterten, bis die frau mit dem hund ihn fand und mitnahm. dass krah wie tot auf dem rücken lag, war womöglich ein scheinmanöver, das er schon öfter erfolgreich angewendet hatte. es hat ja auch am ersten tag gewirkt. am zweiten nicht mehr. die flügellosen funktionieren nun mal nicht immer zuverlässig.

heute beim abendbrot verzog M plötzlich das gesicht ins weinerliche. als ich nach dem grund fragte, sagt sie: keiner will mich haben. berto nicht und du auch nicht. das leben hat keinen sinn.

sie versteht nicht, warum sie in der reha-klinik sein muss, und da muss sie es schon seit monaten aushalten. ein ende ist nicht absehbar. von umnachtung zu reden, wäre bildlich übertrieben. vom hellwachen bewusstsein unterscheidet sich ihr zustand aber deutlich. die welt und alle dinge liegen für sie im fahlen dämmerlicht. es ist wie ein langer nördlicher winter.

von den strike-patienten wird nur ein geringer prozentsatz als geheilt entlassen. den entlasstermin, geheilt oder nicht, bestimmt die krankenkasse. nicht ein arzt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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