Der Elternpass

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die menschheit hat es längst gemerkt, dass der naturzustand zu ende geht. technik und wissenschaft bestimmen das leben, wohin mensch blickt. die letzten sogenannten naturvölker bzw. deren restgruppen werden in nächster zeit von der erde verschwinden, verjagt von flächenfressenden ressourcenhungrigen weltkonzernen.
doch mitten in den brennpunkten der zivilisation, in den megastädten haben sich widerstandsnester des naturzustands behauptet, zum beispiel in den familien. die reproduktion des menschen geschieht nach jahrtausendealten traditionen. im vertrauen auf die natürlichen instinkte besonders der mütter wachsen die kinder unter der obhut der leiblichen eltern auf. mehr oder minder gilt noch immer das altrömische elternrecht. danach haben die eltern das sorgerecht und verfügen über die elterliche gewalt. die gesellschaft geht davon aus, dass die eltern auch die fähigkeit haben, für die kinder zu sorgen.

diese selbstverständlichkeit wird erst seit wenigen jahren angezweifelt. und stets mehr eltern besuchen in ihrer ratlosigkeit kurse zur besseren bewältigung der elterlichen aufgaben.
wenn die statistik der uno hierzulande auf mindestens zwei kindesmisshandlungen mit todesfolge pro woche kommt, dann mögen die einzelnen fälle manchmal großes aufsehen erregen, aber die über 100 kindstötungen pro jahr bleiben ausnahmen. wirklich beängstigend sind die abertausende fälle kindlicher vernachlässigung, verwahrlosung und misshandlung, die alltäglich geschehen und bis tief in die mitte der gesellschaft wirken.
im nachbarland frankreich ist man längst dazu übergegangen, die eltern verhaltensauffälliger kinder zu erziehungskursen zu verpflichten. hierzulande sollen obligatorische ärztliche untersuchungen ein wenig licht in das dunkelfeld der kinderstuben bringen. manchmal wird auch schon die forderung nach einem elternführerschein, besser: elternpass laut.

das traditionelle vertrauen in das elterliche naturtalent zur versorgung und erziehung der kinder ist angeknackst. eigentlich ist es erstaunlich, dass eine gesellschaft, die für fast jede banale tätigkeit einen fähigkeitsnachweis verlangt, für das schwierige geschäft der erziehung jedoch zu einem vertrauensvorschuss bereit ist, der auf nichts beruht als auf tradition. ein auto zu fahren, ist kinderleicht; doch niemand darf sich hinter das lenkrad setzen, der nicht den passenden führerschein besitzt. man erwirbt ihn durch einen fahrschulkurs, in dem die theorie und praxis des autofahrens erlernt werden, überprüft in einer theoretischen und praktischen fahrprüfung.
dagegen müssen eltern absolut nichts vorweisen. man tut geradeso, als sei es den eltern angeboren, mit ihren kleinen so umzugehen, dass die gesund und emotional wie mental gefördert aufwachsen. eine prämisse mit fatalen folgen.

als die menschenrechte vor über 200 jahren proklamiert wurden, selbst bei der erklärung der menschenrechte durch die uno vor etwa 60 jahren waren die familien- und gesellschaftsverhältnisse noch durchweg traditionell, auch in den industrieländern. erst in den vergangenen jahrzehnten drangen technik und wissenschaft überall in der welt bis in die haushalte der entlegensten dörfer vor.
die aufklärerischen begründer der menschenrechte gingen von völlig anderen voraussetzungen aus, als sie heute vorgefunden werden. artikel 16 der erklärung der menschenrechte steht allen heiratsfähigen männern und frauen zu, familien zu gründen. darin kam das vorwissenschaftliche verständnis von kindererziehung zum ausdruck.
heute sieht die welt insgesamt und speziell die welt der familien anders aus. und die sozialwissenschaften verfolgen und beschreiben die entwicklung in der gesellschaft und in den familien. sie legen die statistiken vor, nach denen die verwalter und politiker planen (sollten).
der elternpass, wenn er denn je verwirklicht würde als erster schritt zu auf den überfälligen paradigmenwechsel vom naturzustand der gesellschaft hin zu humanen lebensbedingungen, der elternpass bedeutet eine einschränkung des artikels 16. denn bevor potenzielle eltern eine familie gründen, müssen sie den pass erwerben. der aber ist nur zu haben nach erfolgreicher absolvierung eines elternkurses, in dem es vor allem um den praktischen umgang mit kindern geht. das weitere gesellschaftliche ziel muss sein, ungewollten nachwuchs zu verhindern, statt mit finanziellen anreizen und religiösen forderungen mehr kinder zu propagieren. einwandfrei erziehungsunfähige eltern dürfen keine familien mehr gründen. der test mit den robotbabies könnte eine möglichkeit zur tauglichkeitsprüfung sein, aber auch nicht mehr.

wer meint, die einschränkung des menschenrechts auf ungehinderte familiengründung für alle sei nicht hinnehmbar, ist in der pflicht zu erklären, warum erzieher/innen, pädagog/innen und adoptiveltern durchaus einem genehmigungsverfahren unterliegen. außerdem müssten die gegner des elternpasses einen besseren plan vorlegen, die sozialwissenschaftlich beschriebenen schweren mängel der gewohnten nachwuchsförderung zu beheben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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