Der Putz bröckelt schon lange

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doch allmählich kracht's im gebälk. die alte weltunordnung, die wenigstens im gemütlichen wohnzimmer vorgab, ordnung zu sein, ist mit der globalen verflechtung in ein endstadium eingetreten. imperialismus, kapitalismus und technische fortschritte haben zusammen mit industrialisierung und weltbevölkerungswachstum die sich im eiltempo zuspitzende lage der menschheit vorbereitet.

naturkatastrophen wie jetzt das erdbeben in haiti sind zwar wirklich katastrophal, aber die naturgewalten haben nur einen kleinen anteil am entsetzlichen elend der bevölkerung. die armut der ehemaligen sklaven ist die hauptursache der verheerenden auswirkungen des bebens. kaum ein haus war bebensicher gebaut, die schwache infrastruktur des landes brach zusammen wie die hütten und gebäude. es fehlt nicht nur an medizinischen und technischen fachleuten, sondern auch an allen hilfsmitteln, wasser und nahrung. das land hängt am tropf internationaler rettungskräfte.

menschen, die einen globalen erfahrungshorizont haben wie etwa jean ziegler, warnen unermüdlich vor der fatalen entwicklung in den meisten ländern der erde. aber wenn auch längst den schulkindern in den reichen gesellschaften das bild von der sich immer weiter öffnenden schere zwischen arm und reich erklärt wird, ist das aufklärerisch sinnvoll, ändert aber nichts am fortschreitenden elend der armen und (ver)hungernden. der überreiche westen verschwendet einen großteil seiner technischen möglichkeiten im krieg gegen bettelarme bevölkerungen im irak und in afghanistan.
andrerseits nehmen die erfolgreichen piratenübergriffe im indischen ozean zu, obwohl marineschiffe der reichen staaten dort zum schutz der handelsflotte im einsatz sind. hunger macht erfinderisch. und die weltmeere wie die kontinente der armut lassen sich nicht lückenlos bewachen.

auch schon in früheren epochen der geschichte gab es migrationen, nicht bloß während der sogenannten zeit der völkerwanderung. aber heute erreicht die bewegung weg aus den dunklen ebenen der armut hin zu den hellen hochburgen des reichtums eine historisch neue dimension. so wehren sich die usa und westeuropa nur mit mäßigem erfolg gegen den zustrom aus dem armen süden. wie die reichen ölstaaten am persischen golf sind europäer und us-amerikaner auf die fleißigen helfer aus den armen ländern angewiesen.

einerseits verschafft die globalisierung den händlern neue möglichkeiten, geld zu verdienen, andrerseits vermindert die finanzielle verflechtung rund um den globus und rund um die uhr bei lichtgeschwindigkeit der verbindungen die durchschaubarkeit der geschäftsabläufe. es kommt zu grandiosen fehlkalkulationen und markteinbrüchen. wenn mehrere faktoren sich überlagern wie interferenzerscheinungen ist die mögliche folge eine weltfinanz- und wirtschaftskrise wie gegenwärtig. wiederholung mit mehr vehemenz inclusive.

was die einschätzung der fatalen lage erschwert, ist die verschiebung der proportionen im weltmaßstab. war früher ein europäischer mittelstaat das maß der dinge, versinken diese einst glorreichen nationen europas in der bedeutungslosigkeit neben den außereuropäischen schwergewichten china und indien.

überall in der welt ist überhaupt nur eine winzige minderheit der bevölkerung in der lage und bereit, die lage der menschheit in ihrer fatalität zu erkennen. denn die allermeisten menschen leben nicht im horizont des blauen planeten, sondern sind vollauf mit problemen und konflikten auf der persönlichen und lokalen ebene befasst. die fernsehbilder bleiben fernsehbilder. und das getwitter bleibt getwitter.

und selbst wenn sich der horizont der meisten künstlich weiten ließe, würden ihnen die grundlagen fehlen, ökologische, pädagogische und technische notwendigkeiten zu verstehen. darum wenden sich die meisten von den weltproblemen ab, vertreiben sich die zeit mit boulevardgewäsch und spielfeldregeln. und darum schloss hoimar von ditfurth ab mit dem resignierenden sätzchen: So lasst uns denn ein apfelbäumchen pflanzen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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