Der Wille frei?

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die erläuterung des lemmas 'Willensfreiheit' im duden klingt wie der refrain einer altvertrauten melodei:
"(bes. Philos., Theol.): Fähigkeit des Menschen, nach eigenem Willen zu handeln, sich frei zu entscheiden..."
dann die moderne dissonanz, die unvermittelt als beleg/zitat dagegen steht:
"Heißt W. also: in Gestalt unserer Entscheidungen unverursachte Verhaltensursachen in die Welt zu setzen? Eine derart verstandene W[illensfreiheit] kollidiert mit dem neurokybernetischen Verhaltensmodell (Zeit 10.6.99, 51)."

zuvörderst erfahren wir, wer die alte mär erfunden hat und sie bis heute verteidigt: philosophen und theologen. die sind dafür bekannt, mit begriffen und theoremen zu spielen - ohne rücksicht auf die realität.

das substantiv 'wille(n)' ist ein verbalabstraktum, ein wort mit keiner dinglich-konkreten bedeutung, das aus dem verb 'wollen' abgeleitet ist.
die deutsche sprache ist sehr flexibel. aus einem verb wird im nu ein substantiv, aus einem adjektiv ein verb usw.
aus 'wiegen' wurde 'gewicht' und aus 'sehen' 'gesicht'. das ist sehr praktisch und gar nichts ungewöhnliches im deutschen.
wenn aber die wandelbare sprache zweifelhafte wortkreaturen fabriziert wie den 'seher', das 'hellsehen' oder die 'vorsehung', alle aus dem lichtvollen 'sehen' wie die '(weit)sicht' und die 'vorsicht', beginnt die wortzauberei, verliert das sprechen den halt und rutscht aus der realität.
eine spezialität der wortverdreher ist die hypostasierung. dabei wird z.b. aus einem verb ein substantiv. dieses kann alsdann im satz zum subjekt avancieren und aktiv in erscheinung treten, angemessen eskortiert von artikeln, adjektiven, adverbien etc.
aus dem ein geschehen anzeigenden verb (wollen), das einem hund nachgesagt wurde, der einem hasen nachsetzte, ist das eigenmächtige substantiv (wille) geworden, dem nachgesagt wird, er sei frei und vielleicht auch stark. der oder die derart unvorsichtig den sprachfährten folgende, läuft genauso ins leere wie der hund, der bei dem hakenschlagenden fluchtspezialisten das nachsehen hat.
aus dem hetzenden hund, der einen hasen fangen WOLLTE, haben die philosophen und theologen den WILLEN abstrahiert und hypostasiert, auf dass er frei und stark in erscheinung trete.
anschließend konstruierten die wortwendigen die situation, in welcher jemand vor die wahlt gestellt ist, eine grüne oder eine rote schublade zu öffnen. (vielleicht ist den versuchsleitern aber auch eine noch farblosere und darum noch gleichgültigere alternative eingefallen.)
und weil nun die versuchsperson ganz gleichgültig entschied und gefühlsmäßig frei von allen zwängen und bedrängnissen war, schlossen die philosophen und theologen daraus messerscharf, die versuchsperson sei frei gewesen und ihr wille ebenso.
dem jagenden hund sprachen sie die willensfreiheit aber natürlich ab.

das wiederholte verbrechen des triebtäters klammerten sie dann wohl als sonderfall aus. das verhalten der suchtkranken wahrscheinlich auch.
aber was sagten sie zur liebe auf den ersten blick? was zur mildtätigkeit des schauspielers? und des milliardärs? was zur demutsgebärde des bettlers?

psychologen deuten selbst die wahl einer bestimmten farbe noch als ausdruck der persönlichen 'einstellung', also als irgendwie unfrei, wenngleich die versuchsperson sich in keinster weise unter druck gesetzt fühlt.

kurz: das philosophisch-theologische konstrukt des freien willens dient(e) ganz praktischen zwecken. nur wenn ein täter voll verantwortlich für seine taten ist, kann er mit der ganzen härte des gesetzes bestraft werden. so wird das gerichtsverfahren radikal vereinfacht. eine hexe, via gottesurteil, sprich: folter, überführt, musste büßen und brennen für die falsche wahl ihres freien willens.

wir schleppen eine unmenge traditionsschutt hinter uns her, in der sprache, in den gedanken, in der praxis. die trägheit der tradition ist mindestens so heftig und oft verheerend wie die physikalische trägheit der masse.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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