der würdige großvater.

wer zu spät kommt... so einer wie mein großvater wollte ich auf gar keinen fall werden. das schwor ich mir. so ein grinsender fettkloß. aber er war unleugbar ein teil von mir, mein vorfahr.

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soviel wusste ich, die vererbungslehre ist eine ehrenwerte wissenschaft, die nicht mit sich spaßen lässt.

großvater war über siebzig, ich etwa vierzehn. ängstlich suchte ich nach ähnlichkeiten. man konnte seine augen ja kaum sehen, weil er dauernd dieses fette grinsen aufsetzte. schlitzäugig wie ein überfreundlicher chinese. aber als großvater sich mit der klinge rasierte, konnte ich mich überzeugen: augenfarbe blau. ich war entsetzt. hatte ich etwa die augen von ihm geerbt? und wenn ja, musste ich dann nicht die welt und die menschen so sehen wie er? musste ich dann nicht auch so denken und empfinden wie er? bestand aussicht, dass ich mich am ende meiner tage mit einer goldenen nadel am revers gemütlich in der sofaecke totsaufen würde wie er? kugelbäuchig und nahezu kahl?

ich belauerte den alten wie einen feind. meine abneigung gegen ihn hatte früh begonnen. irgendwann hatte er mir mal versprochen, wir würden einen ausflug nach wuppertal machen und mit der schwebebahn fahren. das war seine idee gewesen, nicht meine. aber ich freute mich auf die fahrt mit der schwebebahn. jahr um jahr. ich wartete. vergeblich. großvater löste sein versprechen nie ein.

mit fünfundsiebzig wurde er von einem motorrad angefahren, erlitt mehrere knochenbrüche und musste ein jahr im krankenhaus liegen. humpelnd und rund kam er dann wieder heraus, setzte sich in eine sofaecke und soff und qualmte eine zigarre nach der anderen. jedem besucher schilderte er die langwierige medizinische behandlung in allen einzelheiten. rollte das hosenbein hoch und zeigte das schienbein, in das die ärzte angeblich zuletzt ein stück hirschknochen eingesetzt hatten.

vom schwiegersohn zur rede gestellt, weil schon wieder zigarrenasche auf dem teppich lag, lächelte er hilflos und humpelte beizeiten aus dem wohnzimmer.

großvater schien nur noch einen ehrgeiz zu haben: so alt zu werden wie seine älteren geschwister, über neunzig. er starb mit fünfundachtzig.

das ist ein schönes alter, fünfundachtzig. der so sprach, ein arbeitskollege von mir, meinte noch: wer so lange einigermaßen gesund gelebt hat, den kann man nur beneiden und beglückwünschen. tragisch ist das ende nicht.

es war also zeit für großvater zu verschwinden. die jahreszeit war auch nicht unpassend. regnerisches herbstwetter mit häufigen böen. die vereinskameraden am grab hatten alle mühe, die mitgebrachten fahnen aufrecht zu halten. ein männerchor sang ein paar strophen in den wind. der mann im talar wurde von den böen ordentlich gebeutelt. fast wäre er ins loch gezerrt worden. die angereiste verwandtschaft hielt mit der einen hand den hut, mit der anderen das taschentuch.

ich war etwas verspätet. kam gerade noch rechtzeitig, bevor der sarg geschlossen wurde. beim ersten blick auf den toten erschrak ich. der da aufgebahrt lag, war ein fremder. warum hatte niemand den irrtum der bestatter bemerkt? der da war nicht mein großvater.

doch dann, im näherkommen schritt für schritt, erkannte ich ihn wieder, besser gesagt: einzelne züge. denn nichts erinnerte an das gewohnte grinsgesicht. nichts war mehr zu sehen von der speckschicht, die das gesicht zugedeckt hatte wie eine clownsmaske. der tod als schönheitschirurg. eine so plötzliche und zugleich vollkommene verwandlung hatte ich noch nicht gesehn. alles dumpfe und alberne war abgefallen.

was hätte geschehen müssen, dass nicht erst im tod, sondern schon im leben so tiefer ernst und so natürliche würde von dem greis ausgingen?

diesem mann, so fremd er anmutet mit der gebogenen aztekennase, wäre ich gern begegnet. so einer hätte mein großvater sein sollen.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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