Ethische Distanzrelation

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fehlanzeige in allen wörterbüchern.
immerhin haben dudens schon mal was von "Distanzgeschäften" und "Distanzwaffen" gehört.

die ethische distanzrelation ist eine angeborene gesetzmäßigkeit des gewissens. sie wurde im milgram-experiment untersucht und eindeutig beschrieben.
milgram stellte durch immer neue versuchsanordnungen fest, dass die probanden so gut wie regelmäßig das opfer ("Schüler") kaltblütig folterten und töteten, wenn sie keinerlei feedback bekamen, wenn sie die folgen ihres tuns nicht sehen oder hören konnten.
umgekehrt: je geringer die distanz zum opfer, je mehr rückmeldung die versuchspersonen ("Lehrer") bekamen, desto eher schreckten sie zurück vor stärkeren schocks für den "Schüler".
in unmittelbarer nähe zum opfer weigerten sich die allermeisten versuchspersonen weiterzumachen. sie brachen den versuch ab, weil sie miterlebten und mitfühlten, wie das opfer(der schauspieler, der den "Schüler" mimte) litt.

bis heute sind keine konsequenzen aus der erkenntnis milgrams gezogen worden. auch der sozialpsychologe hat meines wissens die kleine gruppe der allerwilligsten vollstrecker seiner anweisungen nicht näher untersucht. offenbar fehlte den versuchspersonen die genetische disposition der tötungshemmung. es wäre doch von gesellschaftlichem belang, zu erkennen, was es damit auf sich hat. handelt es sich bei diesen menschen um potentiell kriminelle? das milgram-experiment ließ diese frage links liegen. mir ist nicht bekannt, ob sie von einem anderen sozialpsychologen bearbeitet und beantwortet wurde.

auf der anderen seite ist die gruppe der versuchspersonen am anderen ende der skala nicht minder interessant. das sind diejenigen, die unter allen umständen den gehorsam verweigern, wenn andere geschädigt werden sollen. auch in diesem fall wäre es eine nähere untersuchung wert gewesen, die hätte klären können, um welche menschen es ging, die sich verantwortungsvoll verhielten. waren sie eher generell obstruktiv oder entschieden sie nach bestem wissen und gewissen.


die waffen-entwicklung von nah- zu fernwaffen hat zwei ursachen:
1. je größer der abstand zum feind, desto sicherer fühlt man sich.
2. je größer der abstand zum feind, desto ungerührter töten und verletzen menschen andere menschen.
die fortschritte der menschheit beruhen zum großen teil auf der überwindung von zeitlichen und räumlichen distanzen. denken wir nur an die kommunikationstechnik.

aber auch im zivilen bereich gilt das gesetz der ethischen distanzrelation. spam und trojaner wollen schädigen, und zwar im großen maßstab. die verursacher sehen und hören nicht, was sie anrichten. skrupellos gehen sie aus großer distanz vor.

das regieren und verwalten überwindet immer größere entfernungen im laufe der geschichte. eine parallele zur waffen-entwicklung. sie ist nicht minder tödlich. das hat milgram bewiesen.
die konsequenz heißt: kleinräumigkeit oder, wie e.f. schumacher das nannte, "Small is beautiful".
bei kurzen dienstwegen funktioniert das menschliche gewissen, das in der gruppe der vorzeit entstanden ist, aller wahrscheinlichkeit nach am besten. je größer die entfernungen werden, desto verheerender die folgen. beispiel globalisierung.
die welt muss regionalisiert werden. nicht nur aus ökologischer sicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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