fliegende kraniche.

vorführstunde. für die dezernenten war es ein angenehmer tagesausflug. bis an die grenze des regierungsbezirks, wo es galt einblick zu nehmen in einen neuen schulversuch.

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der unterrichtsraum war bis auf den letzten platz gefüllt. zu den 30 schüler/innen der bilingualen klasse 5 kam die reihe mit extra sitzgelegenheiten für die herren aus dem schuldezernat der bezirksregierung. das gedränge wurde noch verstärkt durch einige schulleiter aus der nachbarschaft. trotzdem konnte die vorführstunde beinahe pünktlich nach dem schulgong beginnen.

die lehrerin im fach kunst begrüßte die klasse und die gäste in der zielsprache niederländisch, ehe sie das unterichtsmaterial verteilte: ein päckchen quadratischer mehrfarbiger blättchen, von denen alle anwesenden, auch die herren in der letzten reihe, eines erhielten.

abweichend vom lehrplan aller anderen bilingualen schulen mit den zielsprachen englisch, französisch und spanisch beginnt der übliche sprachunterricht hier nicht bereits ab jahrgang 5, sondern wie allgemein ab klasse 7. diese fünftklässler hatten also noch keine stunde niederländisch-unterricht gehabt. dennoch sprach die lehrerin kein wort deutsch in dieser kunststunde. so wie in den vorigen stunden seit mehreren wochen.

die lehrerin hielt das blatt papier hoch, damit die kinder gut sehen konnten, was sie als erstes zu tun hatten. die lehrerin verstand sich auf die kunst der spiegelverkehrten darstellung, so dass die schüler/innen das blatt papier und die fingerbewegungen stets so sahen wie ihr eigenes blatt. was die kunstlehrerin sagte, zeigte sie gleichzeitig vor. die wiederholung vergleichbarer faltaufgaben bei gleichzeitiger demonstration jeden teilschritts machte das verständnis möglich, das praktisch jederzeit unter beweis gestellt wurde mit jedem faltfortschritt der schüler/innen. alle kinder konnten folgen.

die lehrerin überzeugte sich von den fortschritten der klasse, indem sie mal durch die reihen ging oder auf fragen reagierte. obwohl die aufgabe, aus dem blatt einen kranich zu falten nach den regeln der japanischen papierfaltkunst origami, für anfänger schwierig war, gelangten alle 30 schüler/innen ohne probleme ans ziel. gegen ende der stunde hielten alle kinder ihr ergebnis hoch und ließen den kranich fliegen. sie bewegten die flügel des papiervogels durch ziehen an dessen schwanz.

die leistung der kinder wurde unterstrichen durch die verlegenheit in der hintersten sitzreihe, wo kein einziger der herren den kranich auch nur zur hälfte gefaltet hatte. trotz abkucken mussten sie beizeiten aufgeben. zur ehrenrettung der herrenriege ist zu sagen, dass sie kaum einen satz niederländisch verstanden, schlicht weil sie es nicht gelernt hatten, und natürlich waren sie mit origami nicht vertraut; vielleicht hatten sie mal etwas davon gehört. das lob der herren von der schulaufsicht war überzeugend und aufrichtig.

aus düsseldorf war ein didaktikprofessor aus dem kultusministerium mit angereist. sein wort wog besonders schwer in der sache. so etwas vollendetes habe er noch nicht gesehen, sagte er. der sichtbare erfolg am ende der stunde spreche für sich. als er dann im gespräch erfuhr, die lehrerin sei native speaker und habe die japanische papierfaltkunst bereits seit vielen jahren praktiziert, fand er die gründe für die ausnahmeleistung offensichtlich. eine solche kombination von fähigkeiten sei optimal für den bilingualen unterricht, aber leider auch die ganz große ausnahme. ein glücksfall. und der mann wusste auch, dass der origami-kranich in japan populär ist als glückssymbol.

25 jahre später, die kunstlehrerin war gestorben, half ich beim räumen ihrer großen wohnung. unter anderem transportierte ich kästen und säcke voll papier zum städtischen bauhof, wo das papier einfacher als bei den papiercontainern an den straßen zu entladen war. als ich oben auf der stahltreppe stand, die zum rand des großen containers hinaufführt, und einen weiteren kasten voller papier in den fast leeren stahlbehälter kippte, sah ich plötzlich lauter buntfarbig leuchtende papierzettel in die tiefe flattern. eine ladung aus den großen vorräten an origami-papieren und faltsachen der kunstlehrerin. da fiel mir das bild vom ende der vorführstunde wieder ein mit den vielfarbig fliegenden kranichen in den hochgehaltenen händen der kinder.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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