gewalt im spiel (1).

beim essen. wir leben in einer kriegsgesellschaft wie fast alle zeitgenossen auf der welt. es versteht sich, dass gewalt nicht nur im krieg sichtbar wird, sondern tagtäglich.

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sicher denkst du jetzt nicht an die katze, die den kanarienvogel verspeist. denn das wäre ein klarer fall von fressen, jedenfalls im deutschen. das englische macht gewöhnlich keinen unterschied zwischen tierischer und menschlicher nahrungsaufnahme - 'to eat' steht für beides. wie die insulaner die tiefe kluft in ein und demselben wort ohne weiteres überbrücken, bleibt ein rätsel, das mit dem verweis auf die englische tierliebe nicht annähernd gelöst ist.
im wort 'fressen' klingt für deutsche ohren etwas an, das unvereinbar scheint mit esskultur; etwas, das man sich bei tisch verbittet.
stell dir ein sonniges frühstück vor. es ist nach wunsch gedeckt, die stimmung ist gut, überhaupt alles zum besten. das scharfe besteck lässt auch nicht im entferntesten gedanken an meuchelmord und messerstecherei aufkommen. gewiss, ab und an zeigt man die zähne, aber doch nur, weil man mit appetit ins warme brötchen beißt oder weil man lächelt.
anders als raubtiere sind menschen beim essen eher sozial gestimmt. das gemeinsame mahl verbindet. am sonnigen frühstückstisch scheint die welt in ordnung. jedes wort, jede geste, jeder griff, das sieht man, ist eingespielt. die szene gleicht einem heiteren spiel mit geringem einsatz bei garantiertem gewinn für alle beteiligten. wie jedes spiel ist auch dieses eine insel, vielleicht sogar eine insel der seligen. freilich sind störungen nicht ganz ausgeschlossen. es hängt zum teil vom geschmack und befinden ab, was als störend empfunden wird. das berühmte haar in der suppe kann auch mal der schmant auf der milch, das küken im ei, das geräusch im radio sein.
bei aller toleranz gibt es eine tischregel, die zu missachten fatal wäre: es darf auf gar keinen fall an die animalische natur der ernährung erinnert werden, nicht durchs wort, noch weniger durch die tat. dergleichen würde gegen die stillschweigende übereinkunft aller verstoßen, die besagt, dass der mensch kein tier sei, sondern herr über alle kreatur, unter anderem berechtigt zum fleischgenuss.
also bitte bei tisch keine anspielung auf die herkunft oder den weiteren weg der nahrung. in der nähe von viehsilos und kläranlagen schließe man beizeiten die fenster. in der nachbarschaft der schlachthöfe sorge man für ausreichende schall-isolierung gegen durchdringendes quieken. und bitte auch keine einzelheiten über die fromme pflugschar, das scharfe schwert gegen den hunger, das die erde aufreißt und alles richtet, was es trifft. es könnte sonst vielleicht die klare unterscheidung von maul und mund, von 'fressen' und 'essen' verwischt werden.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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