kriegsgesellschaft.

zu ende denken. es ist eine schlichte feststellung, dass im dicken duden, der in den 90er jahren entstand, 160 komposita versammelt sind, die mit dem bestimmungswort kriegs- beginnen.

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diese häufung von "kriegsvokabeln" ist schon außergewöhnlich. wenn ich bedenke, dass die inuit im ewigen eis überhaupt kein wort für krieg kannten, erst recht. es hat ganz viel mit dem leben der gesellschaft zu tun, warum es einmal diese überzahl und das andere mal die unterzahl gibt.

trotz des dokumentierten reichtums der deutschen sprache an kriegs-wörtern fehlt das wort kriegsgesellschaft, zumindest im genannten dicken duden. im internet ist es selbstverständlich vorhanden, aber es zeigt sich, dass dieses wort nur die eingeschränkte bedeutung trägt: gesellschaft, die im krieg ist oder krieg führt. diese spezielle bedeutung für das wort greift für meine begriffe zu kurz.

und ich kann mich in meinem verständnis auf immanuel kant berufen in seiner schrift "Zum ewigen Frieden". darin zeigt der autor, dass er nicht von der illusion eines ewigen friedens ausgeht, der sozusagen die basis bildet, das fundament der geschichte. vielmehr sah kant den krieg als das grundmuster, das nur durch waffenstillstände unterbrochen wird. nicht weil eine vereinbarung frieden (wieder)herstellt, sondern nur weil die truppe eine erholungspause vom kampf braucht.

kant lebte in preußen und kannte die abfolge der kriege aus eigener anschauung. auch die geschichtsbücher jener zeit zeigten im wesentlichen eine unendliche reihe kriegerischer ereignisse durch alle jahrhunderte und jahrtausende. cäsars bericht über seine kriege in gallien war die selbstverständliche lektüre in den lateinschulen.

in der relativ kurzen geschichte der brd sehen wir zu anfang den wechsel von der vollständigen entwaffnung der wehrmacht bis zur baldigen (wieder)bewaffnung beider deutscher staaten. es folgte in der brd die studentenrevolte als globale reaktion auf den vietnamkrieg, aber auch auf den heimischen muff von tausend jahren. gegen die aufrüstung der brd in der nato wehrte sich noch eine relativ starke friedensbewegung. danach löste sich der feindliche ostblock auf. doch die hoffnung auf friedliche zustände in europa erwies sich schon bald als trügerisch.

die vergrößerung der brd um das gebiet der ddr schürte den nazionalismus im lande (klar, denn das einheitsstreben war nazional motiviert)mit erschreckenden vorkommen von rassismus und fremdenfeindlichkeit. schließlich führte diese entwicklung zur kriegsteilnahme der vergrößerten brd.

fazit: nichts aus der (zeit)geschichte gelernt, sagt man dann, einerseits zu recht, andrerseits ohne sich das realistische kantsche geschichtsbild klar zu machen, in dem die kette der kriege nie abreißt, sondern die große konstante ist.

99% des in den schulen gelehrten geschichtsunterrichts ist kriegsgeschichte. die staaten- und herrschaftslose geschichte der menschheit ist seit jahrtausenden ausgeblendet. aus mangel an kenntnissen zuerst, zuletzt aber auch aus trägheit der kriegsgesellschaft, in der die vorbereitung der jugend auf den ernstfall tradition ist. heute aber längst überholt, heute ist die vorbereitung der gesellschaft auf mögliche kriege der gerade weg in den abgrund, in den untergang, denn die waffentechnik, die bis zum atomaren overkill gefördert und entwickelt wurde, muss uns ein überdimensionales stopp entgegenschreien, die radikale umkehr, bevor alle einsicht zu spät ist.

die kriegsgesellschaft als nicht wegzudenkender kern der kriegsgeschichte seit jahrtausenden ist eine altlast, die nicht bloß in unserer gesellschaft zu überwinden ist, sondern in aller welt. das ist eine überforderung. das ziel, der abbau und die minimierung von wahn und gewalt, mag klar sein. eine lösung des ungeheuren umbaus der kriegsgesellschaft ist damit noch nicht gegeben. die herkulesaufgabe fordert die kräfte aller menschen. sonst ist das scheitern unausweichlich. denn die kriegsgesellschaft ist bis in alle winkel und ecken kriegsgerecht eingerichtet. wie in mörickes frühlingsgedicht heißt es jetzt: nun muss sich alles, alles wenden.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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