medizynisch.

interview. dass in der brd eher und öfter operiert wird als in den meisten anderen ländern, weiß man. dass chefärzte nicht zum präkariat im lande gehören, ist wohl auch bekannt.

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wie geht's? das ist keine frage, keine floskel. ich sitze dem mann gegenüber, dessen lächeln den verwandtschaftlichen zusammenkünften den edelsten glanz verleiht. sein makelloses gebiss, das bis zu den goldkronen aufblinkt, dazu das strahlende blau seiner augen lassen sein angesicht leuchten über der intimen tafelrunde.

ansehnlich wie die attraktive erscheinung ist die leistungsbilanz des mannes. professor der medizin und dergestalt inzwischen auch kleiner millionär. was will man mehr? ihm sind die sympathie und die achtung aller anwesenden gewiss.

heute aber wirkt sein lächeln nur silbern, ihm fehlt das gewohnte gold. das macht nicht nur der modische bart, den er neuerdings trägt. meine frage ist gezielt und trifft. wie geht's? nicht so glänzend, antwortet er matter lächelnd. und dann folgt wie auf abruf ein bekenntnis, bei dem ihm das lächeln nie ganz vergeht. du weißt, dass ich seit mai emeritiert bin.

mit anderen worten, du beziehst eine hübsche pension und hast jede menge freizeit, denke ich. sicher, das hört sich nicht schlecht an, sagt er. du denkst vielleicht an die kostbare freie zeit. aber das ist was anderes. es ist ein ganz seltsames gefühl, das kannst du mir glauben, sich mit einem mal in den ruhestand versetzt zu finden.

jedenfalls, wenn man wie du sein leben lang nichts als ruhig war im sinne der regierenden. das heißt, rührig und nützlich. dann vermisst man freilich weitere aufträge. jetzt kommst du dir vor wie ein bäcker, der auf seinen brötchen sitzen bleibt, denke ich.

wirklich ein sehr seltsames gefühl, wiederholt er, morgens aufzustehen und überhaupt keine verpflichtungen mehr zu haben. so ahnst du jetzt vielleicht, wie arbeitslosen zumute ist, denke ich, wenn es denen auch zehnmal dreckiger geht als dir.

es ist nicht einmal die widerliche perspektive, die aussicht auf den tod, die das alter so ungemütlich macht, sagt er. glaub ich dir sofort, denke ich, einen weltkriegsteilnehmer und mediziner, einen vater, dessen tochter mit 20 jahren aus dem leben sprang und dessen sohn mit 30 an krebs starb, wird der eigene tod nicht mehr bange machen.

es sind vielmehr die kleinen dinge des alltags, sagt er, und die spürbar sinkende leistungsfähigkeit.

deine prostatabeschwerden sind der verwandtschaft bekannt, denke ich. aber deine freundinnen werden auch nicht jünger.

ich habe anfangs gewisse umstellungsprobleme gehabt, aber jetzt habe ich zurückgesteckt, sagt er. ich habe angefangen, die kleinen freuden des alltags zu entdecken und zu genießen. ein frühstück in muße. spaziergänge ohne blick auf die uhr. ein altes buch, das ich eigentlich immer schon lesen wollte, wozu ich aber nie die zeit fand. das sind so die dinge. du magst darüber lächeln, aber so ist das. der mensch sucht selbst in der misslichsten lage noch nach lust, und du kannst dich darauf verlassen, er findet etwas.

und sei es notgedrungen die berühmte altersweisheit, denke ich. auf mich hat damals als junger arzt eine beobachtung ungeheuren eindruck gemacht, sagt er. ganz unvergesslich. und zwar war das in der medizinischen versuchsstation der klinik. du wirst solche tierversuche wahrscheinlich ablehnen, wie ich dich kenne, unterbricht er sich. das ist eine diskussion wert, aber mir geht es um etwas ganz anderes. das kaninchen war gefesselt und an elektrischen sonden angeschlossen, ein bild, das du sicher vom fernsehen oder aus illustrierten kennst. das arme tier döste bewegungsunfähig in den tod, musste man denken. zweckdienlicherweise hatte man ihm die schädeldecke aufgesägt und abgenommen wie eine mütze. eine nachtropfende nährlösung benetzte das offene gehirn. jedesmal nun, wenn so ein süßer tropfen aus der schädelschale überlief und dem kaninchen über stirn und näschen rann, geschah das erstaunliche: die halbtot geknebelte kreatur verweigerte diesen letzten verwässerten rest an lust nicht, sondern jedesmal kam das kleine rosa züngchen zum vorschein und leckte die zuckerspur.

deine aufrichtigkeit ehrt dich, denke ich. solange es eben geht, das leben genießen, sagt er.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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