Musterpriester

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der eine ist der abbé meslier, ein kleiner landpfarrer aus der tiefsten französischen provinz, der vor 300 jahren lebte.
der andere, monsignore dardozzi, ein prälat im zentrum der römischen kirche, im vatikan, starb vor sieben jahren.

die operationsfelder der beiden vorbildlichen kleriker hätten kaum disparater sein können. dennoch verbindet sie eine große biografische parallele.

jean meslier versah zeitlebens das amt des dorfpastors in den französischen ardennen. zu seinen pflichten gehörte es, am sonntag für den seigneur, den grundherrn und gebieter, zu beten.
ein einziges mal nur weigerte sich der untertan aus der niederen geistlichkeit, den edelmann der fürbitte der gemeinde zu empfehlen. sofort trug der übergangene seine klage dem bischof vor. und prompt rügte der den dorfpriester und wies ihn an, das versäumte schleunigst nachzuholen.

am folgenden sonntag hörten die in der kirche versammelten dörfler/innen neue töne von ihrem pastor: "lasst uns für antoine de toully zu gott beten, dass er seinen sinn ändere und ihm die gnade erweise, dass er die armen nicht mehr misshandelt und die waisen nicht mehr beraubt."
die französische aufklärung und revolution begann auf dem dorf.

erneut führte der seigneur klage beim erzbischof. der abbé musste den predigtwortlaut einsenden. er gehorchte und wurde bald darauf in die zentrale zu reims zitiert. die ernste aussprache dort beim vorgesetzten, dem erzbischof, dauerte einen ganzen monat. erst dann durfte der aufmüpfige pfarrer die heimreise antreten.

meslier hatte seine lektion gelernt. in den bischöflichen akten gibt es keine weiteren vermerke über unbotmäßigkeiten des rebellischen abbé. aber der ins gebet genommene setzte den widerstand fort, freilich mit anderen mitteln. er führte fortan ein doppelleben. er tat seinen dienst ohne fehl und tadel, sammelte aber insgeheim beweise, wie er das nannte, beweise gegen das wahn & gewalt-kartell von klerus und adel.

im lauf der jahre kamen mehr als 1000 seiten zusammen. der form nach eine predigtreihe für seine gemeinde, der absicht nach ein aufruf an alle "leute von geist und autorität, die partei der gerechtigkeit und der wahrheit zu ergreifen, all die schlimmen irrtümer und zustände, den abscheulichen aberglauben und die ganze entsetzliche tyrannei anzuprangern und zu bekämpfen, bis sie vernichtet wären".

meslier entsetzte das schweigen zu vieler, die durchaus über die lage der unterdrückten mehrheit im bilde waren. die religion sei dazu erfunden worden, die leute zu trösten und zu ängstigen, um sie gefügiger zu machen für die herrschenden. der "teiggott" bestehe aus mehl und wasser, und der rest sei genauso profan.
das waren damals todeswürdige worte. manchmal aber fielen mesliers angriffe noch schärfer aus. manchmal wünschte er sich "die gewalt eines herkules, um alle gekrönten häupter und frommen lakaien zu erschlagen".

doch statt auf überwältigende kraft setzte meslier auf eine list. er verfielfältigt eigenhändig sein manuskript, wartet bis kurz vor seinem tod, um eine abschrift in mehreren pfarrämtern zu hinterlegen. zeitbomben, die nach der umsichtigen und gründlichen vorarbeit pünktlich zündeten.

schon bald kursierten kopien in paris. natürlich nur unter der hand. für ein vollständiges exemplar zahlten liquide interessenten ein kleines vermögen. für leute mit spürsinn und geld war es dennoch nicht zu schwierig, sich die begehrte ware zu beschaffen.
der mann, der gemeinhin als die verkörperung der französischen aufklärung gilt, voltaire, war reich und findig genug, ein komplettes manuskript aufzutreiben. es spricht für voltaire, dass er mit dem (p)funde wucherte. er ließ das "zeugnis der wahrheit"(meslier), den urtext der französischen aufklärung, unter den lumières zirkulieren.

die parallelaktion des monsignore dardozzi lief wie gesagt im zentrum der katholischen macht, im vatikan. dardozzi hatte als mitarbeiter der vatikan-bank zugriff auf geheime akten und daten. wie einst der abbé meslier sammelte auch der prälat im vatikan insgeheim tausende daten und dokumente, und als er sein ende nahen sah, schickte er das heiße material dem italienischen journalisten nuzzi, von dem er wusste, dass der die materie zu nutzen verstand. der mann analysierte und verarbeitete die dokumente und veröffentlichte sie in buchform unter dem titel "Die Vatikan AG". das war im vergangenen jahr, in dem allein in italien eine viertel million exemplare verkauft wurde.
als hätte der oberhirte nicht schon genug zu tun, seine schäfchen beisammen zu halten.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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