netze.

angst vor dem alltag. ich bin kein geschichtenerzähler. dieser text ist teil meiner biographie. zu welcher zeit, ist nebensache. die beobachtungen können jahre alt und auch aktuell sein.

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sommerabend. ein richtiger sommerabend. ausgezeichnet durch eine optimale wetterlage. hoch 1030 hpa. warme und trockene festlandsluft. klar. schwachwindig. um ost.

ein abend zum ausgehn, denkt rik. er spürt ein ziehen in der magengegend. aber er bleibt, wo er ist. die gartenpartys steigen, ende offen. von balkonen fällt echogelächter.

sie hat gesagt, man darf nicht so oft und so eng zusammen sein, sonst entstehen besitzansprüche.

rik geht im zimmer auf und ab. das ungute gefühl in der magengegend bleibt. wenn sie ihn anriefe, würde er losstürzen, sofort und auf dem kürzesten weg zu ihr. aber das telefon rührt sich nicht.

man darf nicht so oft zusammen sein. die worte, ihre worte, summen in seinem kopf wie eine hereinverirrte fliege im zimmer, prallt gegen die ecken und fenster der erinnerung, ausweglos.

sie hat offenbar angst, von mir, von meinem gefühl gefressen zu werden. spinnen, sagt man, mögen sich so sehr, dass sie sich fressen. aber sind wir denn spinnen?

rik erschrak. ganz dicht vor seinen augen krabbelte etwas. jetzt erst erkannte er die spinne. außen am fenster spannte sich ihr netz. bis jetzt hatte er hindurchgesehen. geradeaus ins blaue.

das netz zittert. in kurzen intervallen. das zittern im netz geht von der spinne aus. sie prüft so, ob es beute gibt. das hatte rik schon oft beobachtet.

tatsächlich hängt da auch etwas im netz. keine fliege. es sieht eher aus wie die haut einer spinne. sie muss sich gehäutet haben, denkt rik. nach speiseresten sieht das nicht aus. zupft sie am netz, weil sie ihr eigenes hemd für beute hält? spinne, verzieh dich in deinen winkel. es gibt nichts zu fressen.

aber da ist ja noch eine. etwa gleich groß. verkrochen in einem kokon am fensterrahmen. wie, zwei spinnen in ein und demselben netz? das hatte rik noch nie gesehen.

machen sie sich etwa das netz streitig? unwahrscheinlich. es zittert noch immer. die spinne im zentrum ruckt und versetzt die fäden in schwingungen. die andere verkriecht sich noch tiefer im röhrenförmigen gespinst. abwehrhaltung. die bedrohlichen zangen weisen zum netz. eine unangreifbare position.

spinnen reagieren auf leichte erschütterungen des netzes mit beutefanghandlungen, zitiert rik aus dem biobuch. aber sie reagiert gar nicht. sie weiß anscheinend, dass da keine beute zappelt. er spielt sozusagen fliege, die ins netz geflogen ist, verspricht ihr beute. aber sie reagiert nicht. ist vorsichtig. er hakelt an den fäden, funkt seine zuneigung, macht vom zentrum her unentwegt annäherungsversuche, nähert sich dem nest bis auf wenige millimeter, hält an und zupft wieder an den fäden, die zu ihr laufen. aber sie zieht sich nur weiter in den kokon zurück. man darf nicht so eng zusammen sein. sie ist empfindlich. verwundbar. ihr hemd hängt im netz.

er versucht es nun dreister, tastet sich ganz nah heran. da schnellt sie plötzlich vor und verjagt ihn. man darf nicht so eng zusammen sein.

er kehrt zurück an den ausgangspunkt, bezieht wieder stellung im zentrum und zupft. zupft wie ein lautenspieler. ohne erfolg. sie lässt sich nicht täuschen. bleibt wie geduckt im sicheren winkel.

er versucht etwas neues. nähert sich behutsam im rückwärtsgang, um seine friedlichen absichten zu beweisen. verharrt in achtungsabstand. putzt sich. so vorbereitet entschließt er sich zu erneuter annäherung. vergeblich. wieder wird er abgeblitzt. kommt nicht weiter. ich lass mich nicht von dir auffressen.

die erfolglosigkeit scheint ihn nachdenklich zu stimmen. er geht wie unentschlossen im netz spazieren. grübelt vielleicht. wenn du kein vertrauen zu mir hast, gehe ich am besten. versteh ja deine frage durchaus: warum sollte man in einer beziehung alltag aufkommen lassen? sollte man nicht. klar. aber liebe sollte man schon aufkommen lassen. alltag ist ja eben nichts anderes als abwesenheit von gefühl. ach, ich spinne. als wenn sich das leben vom verstand leiten ließe!

er kommt wieder näher. kommt auf drei zentimeter heran. dreht sich um die längsachse. hängt an einem faden, den rücken nach unten, ergebenheit demonstrierend. die langen vorderbeine hakeln in der luft. lockende einwärtsbewegungen. so winkt man jemanden heran. aber keine reaktion. sie bleibt abwartend oder gespannt im winkel. noch nicht ganz abgenabelt von der alten beziehung, die mich lähmte, versucht schon ein anderer, mich wieder anzubinden. ich kann keine ketten und ringe ertragen im moment, auch kein gespinst von tausend dünnen, aber zähen fäden. wohl möchte ich selber fäden, vielleicht sogar seile spinnen, um halt zu haben. doch wenn ich das objekt bin, hab ich angst.

anscheinend ist er zu einem entschluss gelangt. geht jetzt einfach auf sie zu. mit vorgestrecktem bein berührt er ihren fuß oder mit vorgestrecktem arm ihre hand. es sieht fast aus wie händchenhalten. da erinnert er sich. man darf nicht so eng zusammen sein. er zieht sich zurück. einen zentimeter. und beginnt zu zittern und zu klimpern. das netz bebt. und endlich bewegt sie sich. nicht im blitzschnellen vorstoß. langsam und wie selbstverständlich kommt sie aus ihrem versteck hervor. nähert sich ihm ungeschützt. lass uns einige sachen zusammen tun. ein paar stückchen leben gemeinsam leben.

tastendes einverständnis. er ist nun unter ihr. hält sich an ihr fest. küsst sie. die fühler mit den schwarzen kugelenden richten sich gegen ihre taille. stoßen zu wie boxerarme. sie zeigt wirkung, scheint nach einem treffer wie benommen in den seilen zu hängen. er nutzt die chance, setzt nach. von den treffern zucken sie wie boxer im clinch. break! sie lösen sich voneinander. aber nicht lange, da gehen sie abermals in den clinch. und so weiter runde um runde. stundenlang. am ende hingen sie beide nicht weit voneinander im netz, als wenn sie ausruhten. reglos. keiner wurde gefressen.

rik schaltete das licht aus, das er auf das netz gerichtet hatte. das genaue zuschauen war anstrengend. aber es hatte ihn abgelenkt.

am nächsten morgen sah er nach. sie schien noch an der gleichen stelle im netz zu dämmern. er war nicht zu sehen. hatte sie ihn am ende doch noch verspeist? oder war er vor tau und tag auf und davon?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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