über ein aquarell.

jugendbild. jeder mensch ist seines glückes schmied, weiß ein sprichwort. es gibt kein vollkommenes glück. glück und glas, wie leicht bricht das, sagen andere.

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ja, sie war wirklich die glücklichste mutter der welt, obschon sie im strikten wortsinn noch erst eine werdende mutter war. menschen auf der straße oder im laden sahen es ihr an und sagten es ihr. sie konnte ihre glücksgefühle nicht verleugnen, ihre freude über ihr wachsendes baby.

es war die einzige zeit in ihrem erwachsenenleben, die ganz frei war von den schweren migräne-attacken. neun monate ohne migräne, ohne rasende kopfschmerzen, ohne übelkeit bis zum galle-erbrechen, ohne die lichtempfindlichkeit, die sie für den resttag im dunklen schlafzimmer liegen und auf die wirkung der schmerzmittel warten ließ. das war sicher nicht der grund für ihre glücksgefühle, aber es trug wesentlich zum glück bei. es war einfach die schönste zeit ihres lebens. das sagte sie später.

ein urteil ihrer mutter lastete auf ihren frühen jahren und wirkte noch lange nach. über das kleine kind schon hieß es, de is den düwel van de koare kippt oder schriftdeutsch: sie ist dem teufel vom wagen gefallen. wenn eine mutter sowas über das eigene kleine kind sagt, hat sie probleme, die wenig oder gar nichts mit dem kind zu tun haben. das kleinkind war pfiffig und ließ nicht alles mit sich machen. es wehrte sich meist zu recht.

die unglücklichen umstände waren fassbar. es war krieg. sie waren als staatenlose in holland, immer auf der flucht vor den schergen der nazis. denn der vater war jude.

im jugendalter malte sie ein bild in wasserfarben, das so charakteristisch für ihr lebensgefühl in jenen jahren und darüber hinaus war, dass dieses selbstbildnis einen platz in ihrem arbeitszimmer fand, wo es vor direktem licht geschützt, im wechselrahmen unter glas das din a 3 blatt aus dem zeichenblock über die jahre in form und farbe hielt.

die malweise war dem nachempfunden, was von den französischen impressionisten allgemein bekannt ist. es verzichtet auf scharfe konturen und detailgenauigkeit. im oberen bilddrittel ist das laub der bäume hingetupft mit viel raum für licht und unterschiedliche grüntöne. ein sommerlicher park. sechs baumstämme tragen die helle blätterwolke. einer im hintergrund ist besonders dunkel und mächtig. die frau scheint direkt auf diesen baum zuzugehen oder eher vor ihm innezuhalten. denn die frauengestalt zeigt keinerlei bewegung. keine schwenkenden arme, keine ausschreitenden beine. allenfalls andeutungen von armen durch einen streifen dunkleren grüns rechts und links in dem kleidungsstück, das als grüne bluse zu verstehen ist. der rötlich-bräunliche rock reicht geradlinig senkrecht hinab bis zu den dunklen schuhen, die, kaum sichtbar, ziemlich rustikal wirken. am oberen ende ist auch der kopf nur rund und schwarz dem blusenstück mit den geraden schultern aufgesetzt, über dem ein bräunlicher hut mit ausladender hochgezogener krempe den kopf kühn aufwertet.

der reglosigkeit der frauengestalt entspricht die weglosigkeit des parks oder waldes. der boden ist grünlich, bewachsen. blickrichtung und andacht gilt dem mächtigsten baum im bestand, dem lebensbaum. sage ich. dass die person ganz allein im wald steht, kann in zwei richtungen gedeutet werden: zum einen ist es eine adäquate darstellung der andacht und des ernstes in der situation der jugendlichen, die das leben noch vor sich hat und allein davorsteht; zum andern ist das bild ausdruck großer einsamkeit. die gestalt hat sich vom betrachter ab-, dem leben(sbaum) zugewandt.

nach der geburt des sohnes war das mutterglück vollkommen, brach aber jäh ab. der junge hatte ernährungsstörungen. eine lebensgefährliche krankheit für neugeborene. das baby musste wieder zurück in die obhut der ärzte. die aber wussten nicht, was dem kind fehlte. schließlich fanden die eltern selbst den genetischen defekt, die zuckerunverträglichkeit in der familie des vaters. der sohn erholte sich rasch. ihn verlor die arme mutter nicht, aber schon bald den erzeuger. sie ertappte ihren mann bei der untreue und trennte sich von ihm.

im späteren leben - sie war eine geachtete und von ihren schülern verehrte lehrerin geworden - klang es wie ein fernes echo auf das selbstbildnis der jugendlichen, wenn sie gelegentlich aus hermann hesses gedicht "Im Nebel" zitierte, vor allem die vier letzten zeilen:

"Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, Jeder ist allein."

im jugendbild fehlt nur der nebel; sonst passt der vers wie eine deutung und darstellung in worten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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