una scienza nuova. Plädoyer für die G-Wissenschaft

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

google kann mit der such-eingabe "g-wissenschaft" nicht viel anfangen. in wörterbüchern ohnehin fehlanzeige.
nicht irgendeine wissenschaft ist gemeint, deren name mit einem g- beginnt wie gastroenterologie, genetik, geochemie bis gynäkologie, sondern eine disziplin, die es im unterschied zu den genannten noch gar nicht gibt, deren gegenstand das gewissen des menschen ist.
pädagogische gewissensbildung oder religiöse gewissenserforschung sind etwas anderes.
wissenschaft fängt an, den namen zu verdienen, wo es um klar erkennbare und wiederholbare tatsachen geht, wo in diesem fall nachweisbar das gewissen in seiner funktionsweise beschrieben und erklärt wird.
professor milgram hat mit seinem experiment einen grundstein für die g-wissenschaft gelegt, als er zeigte, was geschieht, wenn die versuchspersonen zur gewaltausübung gegen einen unbekannten aufgefordert werden und dabei die umstände variieren. zum beispiel konnte milgram zweifelsfrei herausarbeiten, dass die gewaltbereitschaft von der entfernung zwischen täter und opfer abhängt. je größer der abstand, desto größer die gewaltanwendung. aus äußerster ferne waren praktisch alle probanden bereit, bis zum äußersten zu gehen.
in unmittelbarer nähe zum opfer aber kündigten die allermeisten versuchspersonen die mitarbeit, sprich: den gehorsam auf. das stärkste feedback wirkte wie eine bremse.
dieses gesetz der distanz-relation ist wirksam wie ein naturgesetz. im menschen. da es in tausenden versuchen bestätigt wurde, muss es unabhängig von der einzelnen person eine angeborene/genetische eigenschaft des menschen sein. individuen, deren gewissen nicht so arbeitet, sind wahrscheinlich verbrecher. sie haben einen irreparablen geburtsfehler, durch den sie für die übrigen menschen gefährlich sind. sie in verwahrung zu nehmen, ist unvermeidlich. aber sie an den pranger zu stellen, ist unmenschlich, weil die betroffenen unschuldig schuldig werden. ihr defizit ist als krankheit zu verstehen wie eine mangelerkrankung. ob sie eines tages heilbar sein werden durch den fortschritt der gentechnik, wissen wir nicht.
noch existiert die g-wissenschaft nicht, doch schon zeichnen sich formen der angewandten g-wissenschaft ab, etwa wenn schlussfolgerungen gezogen werden aus der entdeckung des gesetzes der distanz-relation, die dringend geboten erscheinen:
alle imperien in kleine regionen aufzuteilen und alle zentralen verwaltungen auf ein menschliches maß zu reduzieren. flache hierarchien sind erlaubt, steil aufragende nicht.
in den 70er jahren propagierte e.f. schumacher die überschaubarkeit in der ökonomie unter dem motto: small is beautiful.
die kleinräumigkeit der verwaltungseinheiten ist aus ökologischer und aus ethischer sicht das ideal, weil es den fähigkeiten des menschen angemessen ist.
machtkranke sind eine weitere art der verbrecher, deren charakter andere menschen gefährdet und wahrscheinlich unglücklich macht. das jedenfalls sah der historiker jacob burckhardt so, als er schrieb:
"Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen."
der historiker hatte gewiss anschauliche beispiele aus studium und zeitgenossenschaft vor augen.
die g-wissenschaft ist gesellschaftlich so notwendig wie das gewissen aller individuen. dass es sie noch nicht gibt, wirft kein gutes licht auf die forschungslandschaft.

es ist nur zu verständlich, dass manche leutchen besser fahren ohne die g-wissenschaft. doch die gesellschaft würde besser fahren mit dieser disziplin und ihrer förderung.

brachliegende forschungsfelder sind: gewissen und geschichte; manipulierbarkeit des gewissens (gefahren der schwächung und möglichkeiten der stärkung des gewissens); erscheinungsformen des positiven gewissens (= handlungsmotiv) und formen des negativen gewissens (= unterlassungsmotiv); das verhältnis von wahn und gewalt und das verhältnis von wissen und gewissen etc.

zur geschichtlichkeit des gewissens: ein flüchtiger blick auf die ausdrucksformen von gewissen in den letzten jahrhunderten und jahrtausenden suggeriert eher, dass es keinen fortschritt der gewissen gegeben hat. vor jahrhunderten wandten sich george fox und seine anhänger (die im deutschen mit dem verächtlich klingenden namen "quäker" bezeichnet werden) gegen die hierarchie von staat und kirche, gegen todesstrafe und kriegsdienst, gegen sklavenhandel etc. die mitglieder der "Society of Friends" hatten offenbar ein klares gespür für die unmenschlichkeit der gewalt, sei sie direkt oder strukturell.

vor jahrtausenden bewiesen bewegungen in indien wie dschainismus und buddhismus, dass sie die gewalt als unmenschlich erkannt hatten und durch verhaltensregeln individuell zu überwinden suchten. albert schweitzer, bekannt durch sein urwaldkrankenhaus in lambarene und durch seinen slogan "Ehrfurcht vor dem Leben", nannte die formulierung des ahimsa-gebots der dschainas ein überragendes ereignis in der geistesgeschichte der menschheit, und er sprach in dem zusammenhang von "absoluter Ethik". das gewissen der inder schloss stets die tiere in das verbot der verletzung und tötung ein. dschainas durften weder bauer noch krieger sein. gandhis praxis der gewaltfreiheit stand in der altindischen tradition.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden