Vegan = human

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zur entspannung:

erstens bin ich kein 100%iger veganer. zweitens halte ich den veganismus für eine variante und einen späten ableger des dschainismus. drittens bin ich nicht damit einverstanden, dass eltern ihren kindern eine zwangsernährung verschreiben, ohne die folgen ihres tuns einschätzen zu können (gilt für alle eltern, nicht nur vegane).

wir westler sehen die ernährung gewöhnlich im kontext der gesundheit oder des genießens. neuerdings auch schon mal der ökologie, wenn etwa dafür plädiert wird, mineralwasser und biofleisch aus der region zu beziehen. das ist für europäische verhältnisse eine bemerkenswerte annäherung an ethische maßstäbe. nicht so neu ist es, dass (groß)eltern ihren (enkel)kindern einschärfen, kein brot wegzuwerfen oder mit den bestandteilen der mahlzeit zu spielen.

dieselben eltern sagen aber womöglich kein wort, wenn dick und doof oder ähnliche figuren sich mit torten bewerfen oder mit sekt bespritzen. auch sind die leute wahrscheinlich damit einverstanden, dass treibstoff aus nahrungsmitteln gewonnen wird.

kurz: hier im westen wie übrigens auch im fernen osten denken die wenigsten bei essen und trinken an ethik, eher an etiquette.

wenn hierzulande mit einer aus indien stammenden heilslehre sympathisiert wird, dann mit dem buddhismus, für gewöhnlich dem tibetischen mit seinem weltläufigen oberhaupt, dem dalai lama.

der etwa zur gleichen zeit (vor zweieinhalb jahrtausenden) wie der buddhismus in indien entstandene dschainismus ist dagegen weitgehend unbekannt. doch nicht der gautama buddha, sondern mahavira und seine jünger haben das ethische ideal entdeckt und verkündet, das albert schweitzer zu recht ein großes ereignis in der geistesgeschichte der menschheit nannte: das ahimsa-gebot, das jedem menschen abverlangt, nicht zu verletzen. keinen menschen und kein tier.

die einbeziehung der tiere ist für indien nicht ungewöhnlich, wohl aber für den übergroßen rest der welt.den heiligen kühen etwa, den oft im westen verspotteten, stehen in europa die stierkämpfe und das stiertreiben von pamplona gegenüber. dazwischen liegen welten.

nicht die religion war im christlichen abendland die basis für die vegane lebensweise, wohl aber die ursprünglich romantische naturschutz- und vor allem die tierschutzbewegung. diese basis wurde in den vergangenen jahrzehnten durch die wissenschaft der ökologie verbreitert. stets mehr menschen leben in europa vegetarisch. die veganer/innen sind eine radikale minderheit innerhalb dieser gruppe.

dschainas lehnen jegliche form der gewalt ab. gandhi ging bei ihnen in die lehre. aber vom mahatma stammt die erkenntnis, dass dem menschen kein absolut gewaltfreies leben möglich ist. auch albert schweitzer beeilte sich zu erklären, das ahimsa-gebot sei in wahrheit nicht realistisch, mögen sich die dschaina-mönche auch noch so bemühen, auf keine ameise zu treten und kein noch so winziges insekt versehentlich zu verschlucken.

dschainas lehnen den kriegsdienst ab. das versteht sich. sie lehnen aber auch den beruf des bauern ab, weil bei der landarbeit tiere verletzt und getötet werden können. das hieße in letzter konsequenz, sie müssten aufhören zu essen. das tun aber nur einige ältere dschainas beim fasten bis zum tod.

nicht alle dschainas leb(t)en als "luftbekleidete" (= nackte) mönche streng nach dem gebot; nicht alle mitglieder dieser hinduistischen gruppierung fasten im alter bis zum tod. vielleicht lässt sich die mehrheitsbevölkerung indiens mit der minderheit der vegetarier/innen bei uns vergleichen. was für indien die dschainas, wären dann hierzulande die veganer/innen.

was indische denker mit der erfindung der null für die moderne mathematik geleistet haben, das haben die dschainas mit der formulierung des ahimsa-gebots für die moderne ethik getan. alle punkte im ethischen koordinatensystem beziehen sich auf den ethischen nullpunkt, das ahimsa-ideal.

für den alltag und die gesellschaftliche praxis bedeutet dies: diejenige entscheidung und handlung ist ethisch höherwertig und insofern verantwortbar, die unter den alternativen das geringste maß an gewalt impliziert. vorausgesetzt die folgeneinschätzung beruht nicht auf vorurteilen oder bloßen mutmaßungen, treten gewissensentscheidungen so aus dem halbdunkel des subjektiven.

fazit: das ahimsa-gebot ist wesentlich konkreter als der kategorische imperativ. vegan zu leben heißt, was einen bestimmten (den auf tiere bezogenen) sektor der persönlichen und öffentlichen entscheidungen und handlungen betrifft, das höchstmögliche maß oder auch das menschenmögliche an gewaltfreiheit, sprich: humanität.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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