Vita pugna.

Unentschieden. als ich das wort über dem eingang der jugendherberge in goslar las, missfiel mir der spruch. nazizeugs, dachte ich. ich war dort als schüler auf klassenfahrt.

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einige jahrzehnte danach sehe ich nun die lateinische formel, die sagen möchte, das leben sei kampf, gelassener. darwins struggle for life ist ebenso verarbeitet wie das altindische (dschaina)gebot, nicht zu verletzen, und auch die moderne argumentationslehre.

hatte die schlussphase des endspiels der em frauenfußball im fernsehen mitbekommen. beim jubel der siegerinnen nach dem schlusspfiff vermisste ich den kameraschwenk zu den verliererinnen, doch der schwenk blieb aus. das wort "niederlage" klingt etwas vorsintflutlich, sieht aber ganz neu gemacht aus.

kampf bedeutet gewöhnlich sieg der einen und niederlage der anderen. wenn aber die normale spielzeit unentschieden ausgeht, wird nachgespielt. sieg bzw. niederlage wird erzwungen. wer hat sich die regel nur ausgedacht, die einen sieg bzw. die niederlage erzwingt?

fußball ist nur der zuschauermassivste, nicht aber der einzige sport hierzulande. der kampfsport ist nur eines von zahllosen beispielen für das vita pugna. mal nennt man es wettbewerb, mal konkurrenz, mal feindschaft. ich gebe mittlerweile zu, dass das leben kampf bedeutet. die frage ist nur, kämpfen wofür und wie.

ein leser meines buchs "Die Evolution kassiert die Kriegskultur" fasste seine kritik in dem einen wort zusammen: missionarisch. der kritiker wollte wohl heiter unterhalten werden, nicht aber in seiner lebenseinrichtung durch umzugsempfehlungen behelligt.

wo der kampf in die schlacht ausartet, ist die grenze zwischen vita pugna und bestialischem struggle for life überschritten, die grenze zwischen mensch und unmensch. selbst im rohesten sport, dem boxkampf, wird zumindest noch der schein gewahrt, als hätten die gegner gleiche chancen. die gewichtsklasse muss gleich sein.

in der freien wildbahn und in der zivilisierten gesellschaft herrscht der kampf zwischen ungleichen vor. wie die katze die maus überlegen erbeutet, so ist in der regel der bürgermeister dem einzelnen bürger überlegen. gar nicht zu reden von der übermacht des staates gegen einzelne bürger. aktuelles beispiel: die britische regierung gegen mitglieder der zeitung The Guardian.

die fundamentale ungleichheit hatte rousseau im sinn, als er den beginn der zivilisation mit dem ersten eingezäunten stück land gleichsetzte. das war ein bisschen arg theoretisch. bestens belegt ist die ungleichheit in der gesellschaft der frühen städte. seitdem, seit etwa 5000 jahren, geht es in der zivilisation roher zu als im boxring.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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