Wie meinen?

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der freitag ist laut untertitel ein "Meinungsmedium". wer hat sich das nur ausgedacht? ein/e marketingmann/frau? oder auch ein/e medienexperte/in?

wer mal im Hyde Park war, kennt auch bestimmt die haltestelle Hyde Park Corner und die ecke im Hyde Park, die Speakers' Corner heißt. dort werden seit generationen meinungsäußerungen getätigt. jemand hielt, als ich vor jahrzehnten mal da war, ein schild mit der deutlich eigenhändigen beschriftung hoch: "The End is at Hand." etwas weiter redete jemand vor einer kleinen schar zuhörer/innen, die er überragte, weil er auf einer mitgebrachten kiste stand. jede/r hat hier das recht, seine meinung frei kundzutun. nur die Royal Family ist tabu.
der genius loci ist ganz besonders, wenn man so will, beharrlich wie die traditionen allgemein und in britannien ganz besonders. vor langer zeit standen dort galgen, bei denen die zum tode verurteilten noch unmittelbar vor ihrer hinrichtung ein wort an die versammelten richten durften.

heute ist Speakers' Corner durchs internet in den schatten gestellt. man braucht zwar immer noch eine kiste (=pc), um besser gehört zu werden, aber mensch kann jetzt nach herzenslust bei tag und nacht, bei regen und schnee bequem und getarnt durch den nickname seine eingebungen loswerden. und die queen und ihre family sind auch nicht mehr tabu.

Speakers' Corner und netzgeschwätz standen und stehen irgendwie ansehnlicher und respektabler das parlament und die journalistisch geführten medien gegenüber. schon durch ihre altehrwürdigen traditionen haben sie einen höheren anspruch als die stimmen aus dem underground. obschon - auch in parlamenten und zeitungen wie in funk- und fernsehprogrammen sind die meinungsäußerungen dominant bis in die nachrichten hinein. sie werden lediglich ordentlich frisiert vorgetragen. aber wichtiger als unterscheidungsmerkmal ist der hohe grad der organisation.

der freitag möchte erklärtermaßen ein medium sein/werden, in dem oben und unten, sozusagen Speakers' Corner und British Parliament durchlässig erscheinen und gemeinsam operieren. das heißt, online- und printausgabe der zeitung verschmelzen möglichst weitgehend. was natürlich eine zumutung ist für den stand der gestandenen journalist/innen an bord.
aber das konzept ist eben grunddemokratisch und daher auch irgendwie links. denn der einzige vorzug der demokratie vor allen anderen herrschaftsformen ist doch die möglichkeit, dass die befindlichkeit der schlechter gestellten oder der im regen stehenden eine stimme hat, die in den abgehobenen kreisen der gesellschaft gehört/wahrgenommen wird. (wo geheimdienste den job machen, ist die nachricht nicht authentisch, womöglich sogar verfälscht.)

2 dinge bleiben bei dieser bemerkenswerten veranstaltung außen vor:
a) die (klassen)struktur der gesellschaft bleibt unangetastet (sie ist ja die bedingung der notwendigkeit durchlässiger verhältnisse für die berichterstattung)
b) die stimme der kritischen wissenschaft, notwendiger gegenpart zum bloßen gemeine und gewolle, hat aus technischen gründen (noch) kein ressort.

das korrektiv der wissenschaft ist auch im parlamentarismus nur schwach ausgebildet in gestalt der beiräte und kommissionen (ohne sitz und stimme). erst recht fehlt der "freien" forschung und wissenschaft ein korrektiv. es fehlt in parlamenten und medien. das unabhängige urteil über die planungen und zielsetzungen der wissenschaft und wirtschaft kann nur von lebenserfahrenen und nachweislich ethisch herausragenden persönlichkeiten erwartet werden. nennen wir das gremium ohne namen vorläufig den "Rat der Weisen".

wenn das laufende projekt des freitag die ersten drei jahre erfolgreich gelaufen sein wird, warten bereits neue aufgaben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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