Abschied vom Tannicht

Bücher Als Booklooker-Verkäufer muss ich mich immer wieder von Büchern trennen, die ich lieber behalten würde.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Diesmal hat es Arno Schmidts "Stürenburg-Geschichten" getroffen, ein hübsches rotbraunes Inselbändchen. Bringt immerhin 8,- € und Booklooker-Verkäufe werden nicht auf's Hartz IV angerechnet. Helfen mir also, den wöchentlichen Einkauf beim Discounter zu finanziern und die "Tafel" zu vermeiden, wo ohnehin gerade eine hochexplosive Stimmung herrscht.

Aber um die "Stürenburg-Geschichten" ist es echt schade: In meinem Geburtsjahr 1956 war Schmidt noch nicht der kühne Spracherneuerer, sondern schrieb an der deutschen Romantik geschulte Kurzgeschichten mit Gruselfaktor. 1953 hatte er "Die Frau in Weiß" von Wilkie Collins übersetzt (sein auflagenstärkstes Buch), kannte sich also im Genre der Mystery Novel aus.

Schmidt Geschichten sind bodenständig: Altapotheker Dettmer sitzt da neben dem pensionierten Hauptmann von Dieskau, prostet der Schiffsarztwitwe Frau Dr. Waring zu, die mit ihrer minderjährigen Nichte Emmeline erschien. Das getreue Faktotum Hagemann füllt die Gläser nach und alle lauschen den Geschichten des Vermessungsrats a. D. Stürenburg - oder erzählen selbst welche.

Die Anekdoten sind eher bieder, es geht um Spukhäuser, Spukbäume, verkaufte Leichen, geschäftstüchtige Bildhauer unter Verdacht, genarrte SS-Leute, gerettete Juden, einen Mausgeist und eine blonde Maid, die 1812 mit dem Franzmann fraternisiert. Wackere Vermessungs-Gehülfen schließen ihre Dienstfahrräder im Tannicht ab.

Und doch sind diese Geschichten anrührend, erzählen von der Sehnsucht Schmidts, im hohen Alter noch in gesicherter Position fröhliche Besuche zu empfangen, "von einer mühevollen, aber nun heiter aufleuchtenden Vergangenheit" zu erzählen. Wie der Geodät Brösicke aus der Geschichte "Ein Leben im Voraus", welcher vertrauliche Briefe an Freunde für viele Jahre auf Vorrat schreibt, aber bald am Arbeitsplatz erschlagen wird.

Dieses Büchlein würde ich gerne behalten. Geht aber nicht. Kopieren ginge: über Scanner, OCR, Schreibprogramm und Calibe könnte eine EPUB-Datei auf meinen Kobo Glo wandern. Gibt es ein Recht auf Privatkopien an Büchern? Wäre das jetzt legal, illegal oder sch...?

http://666kb.com/i/d321elr0fjryky128.jpg

Das Buch würde ja nicht vervielfältigt. Trotzdem verzichte ich darauf, um mitlesenden Abmahn-Anwälten, textenden Lockspitzeln und anderen Geschäftemachern nichts gegen mich in die Hand zu geben ...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

hadie

Was die Arbeitnehmer jetzt brauchen, ist ein Rettungsschirm für die Portemonnaies. (Frank Bsirske)

hadie

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden