Alle Staus und alle Blitzer

Wenderoman Zwei Tage nach Schabowskis Mauerfall verlässt das Ehepaar Bischoff sein altes Leben in Gera - Arbeit, Etagenwohnung, Kleingarten.

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Ihr fast schon verloren geglaubter Sohn Carl fährt die beiden Fünfzigjährigen zum Grenzübergang nach Herleshausen, wo er sie im strömenden Regen auf einer zerfahrenen Wiese zurücklässt. Den Eltern soll es einmal besser gehen. Als Einstieg schon mal nicht schlecht.

"Ab Gießen getrennt": Über Notaufnahmelager und Durchgangswohnheime führt ihr Weg in die weite Welt hinaus. Selbstverbannung nennen sie das und als guter Sohn folgt Carl ihrem Beispiel: verlässt die heimische Hügellandschaft und flieht nach Berlin. Dort kennt er niemanden, nur eine Menge Prenzlberger Gedichte aus dem abgebrochenen Germanistikstudium.

So könnte ein Künstlerroman seinen Lauf nehmen, doch Carl huldigt der Binnenexotik des ein paar Jahre lang freigelassenen Prenzlbergs. Er lebt auf der Straße, nutzt die Dienste einer riesig netten Sexarbeiterin, die ihn in den Kreis des "klugen Rudels" einführt, linkstönenden Hausbesetzern, Künstlern und Kleinkriminellen mit eigener Kellerkneipe. Carl fährt mit Vatis Shiguli Schwarztaxi und schreibt Gedichte.

Der Roman geht zweisträngig weiter, der eher dokumentarisch angelegte Roadtrip der Eltern steht im Kontrast zum Strang des immer irgendwie fiebernden, saufenden oder unglücklich verliebten Kunst-Künstlers Carl.

Und Seiler beerbt hemmungslos (meist Prenzlberger) Dichter, ohne dies zu kennzeichnen. Elke Erbs "tote selbstvergessene Mäuse" habe ich ja noch erkannt. Aber da ist auch Döblin, der unvermeidliche Georg Trakl, wahrscheinlich Uwe Johnson, mindestens Ulrich Plenzdorfs Prosasound, wahrscheinlich auch Rimbaud, Rilke, Hilbig usw.

Und dann das Radio: wie schon in Seilers "Kruso" die "Viola", dauerdudelt hier ein Kofferradio der Marke "Stern 111", das dem Text auch seinen Namen gibt. Irgendwie funktioniert der Roman selbst wie ein "Tagesbegleitprogramm" im deformierten Hörfunk: MDR Stagnat-Unhold spielt die Hits unseres Lebens - 24 Stunden lang vom Server. In der Kellerkneipe sind es Brüllpunk und Alternative Rock. Der Romantext folgt eher dem Muster einer kommerziellen Klassikwelle:

Hören Sie nun den 2. Satz Largo aus Antonín Dvoráks Sinfonie Nr. 9 e-Moll op.95 "Aus der Neuen Welt".

Lesen Sie nun Alfred Döblins Biberkopf im fiebrigen Suff, danach ein schöner Schachtelsatz von Peter Wawerzinek.

Es folgt eine Gedichtzeile von Sarah Kirsch, danach lesen Sie den dritten Satz einer zickigen Wortspielerei von Bert Papenfuß-Gorek. Alle Staus und alle Blitzer des Wendeherbsts 1989.

In unserer Dauerwerbesendung "Aus Wendereckes Wohnküche" hören Sie nun den Kommentar von Vollhorst Neidhammel: "Ach was sind wir heute wieder medienkritisch!"

Insgesamt ein eher überflüssiges Buch - in einer Zeit, in der auch der letzte Trottel seine Wendeaufzeichnungen dem Papiercontainer anvertraut haben dürfte. Dabei können Radioarbeiten durchaus auch heute noch Wesentliches aussagen, man denke an Stefan Weigls Hörspiele. Dies aber als abgegrenzter Text mit kompakten Aussagen und nicht als "Tagesbegleitprogramm" von 528 Seiten.

Lutz Seiler. Stern 111. Suhrkamp/Insel 2020. 24,- €.

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Geschrieben von

hadie

Was die Arbeitnehmer jetzt brauchen, ist ein Rettungsschirm für die Portemonnaies. (Frank Bsirske)

hadie

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