Das Erbe der Enterbten

Währungsunionen »Anschluss. Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas« heißt das neue Buch des italienischen Ökonomen Vladimiro Giacché. Und beides hängt schicksalhaft zusammen.

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Es beginnt mit der Ausreisewelle über Ungarn, den Montagsdemonstrationen, Honeckers Rücktritt, Grenzöffnung, Beitrittsverhandlungen und der einzigen freien Volkskammerwahl am 18. März 1990. Dann folgen die Umtriebe von Finanz-Staatssekretär Köhler und seinem Referatsleiter Sarrazin zur schnellen Einführung der D-Mark in der DDR. Das alles liegt nun ein Vierteljahrhundert zurück und der Altossi mag es nicht mehr hören oder lesen. Doch es lohnt immer noch, sich die Außenansicht der grausamen Übertölpelung eines ganzen Staatsvolks zu Gemüte zu führen und nach den Folgen für Europa zu fragen.

http://666kb.com/i/curo3romqvxzfnj6v.jpgDie europäische Währungs- und Wirtschaftsunion wäre ohne die deutsche Vereinigung von 1990 undenkbar gewesen. Mit der Einheitswährung Euro sollte Deutschland in europäische Zusammenhänge eingebunden werden, als Möchtegern-Großmacht an die Kette gelegt werden. Doch Deutschland setzte seine marktradikale und paternalistische Ideologie auch im gemeinsamen Europa durch. Die Konzepte für Wirtschaft und Gesellschaft waren genau diejenigen, mit denen man schon die DDR übernommen und zertrümmert hatte. Sogar die hochkriminelle Treuhandanstalt tauchte vor einigen Jahren in Griechenland wieder auf. Mit einem Unterschied: Sozialtransfers gab es für "PIGS" nur auf Kreditbasis, die nun mindestens so grausam wieder eingetrieben werden, wie seinerzeit die sogenannten "Altschulden" der ostdeutschen Betriebe.

Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung, Deindustrialisierung und Zertrümmerung der Lebensverhältnisse von Millionen Menschen sind die Folgen beider Währungsunionen. Den jeweils schwächeren Volkswirtschaften wird mit finanzpolitischen Instrumenten »das Genick gebrochen«, wie Hans Modrow feststellte. Giacché beobachtet Entvölkerung und Überalterung an den Peripherien, Nutznießer sind die nordwesteuropäischen Ballungszentren mit ihren steuervermeidenden Konzernen und neoliberalen Eliten.

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„Die Geschichte des Endes der DDR ist auch unsere Geschichte“ schreibt Gicacché – und die Geschichte hat einen Namen: „Mezzogiorno“, den unüberwindbaren Entwicklungsrückstand, der sich nur immer weiter vergrößert. Als Italiener kennt der Buchautor die Entstehungsgeschichte dieses Effekts ganz genau: als nach der politischen Einheit Italiens 1861 eine gemeinsame Währung eingeführt wurde, drifteten Norden und Süden des Landes sofort wirtschaftlich auseinander. Dieser Effekt wurde verstärkt durch die starke Lira-Aufwertung zwischen 1873 und 1885. Von 1945 bis 1975 gab es einen Aufhol-Prozess, der längst wieder durch ein noch extremeres Auseinander-Driften der Wirtschaftsräume abgelöst wurde.

Giacchés Bilanz fällt nüchtern aus: »Wer immer in Deutschland regiert: Ein roter Faden verbindet die Rosskur, der die Wirtschaft Ostdeutschlands unterworfen wurde, mit den Hartz-„Reformen“ und den „Hausaufgaben“, welche die Krisenländer machen sollen. Die Rezepte sind immer die gleichen: Privatisierung und Lohnsenkung.« Dabei wäre eine wohlverstandene Industriepolitik erforderlich, um »die Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften des Kontinents zu verringern« und die Euro-Zone »vor einer unkontrollierten Implosion zu bewahren«.

Wie dies doch noch gelingen könnte, ist unaufgeregt und faktenreich in Vladimiro Giacchés Buch nachzulesen.

Vladimiro Giacché: Anschluss - Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas. Laika-Verlag, Hamburg 2014, 167 Seiten, 22 Euro

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Geschrieben von

hadie

Was die Arbeitnehmer jetzt brauchen, ist ein Rettungsschirm für die Portemonnaies. (Frank Bsirske)

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