Dunkel-Haftnotizen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Im Vorverkauf gibt es natürlich keine Abendkarten für die Buchmesse und damit auch keine freie Fahrt mit der S-Bahn. Also fahre ich mit dem Auto, höre im Radio sonore Stimmen, die von einem Amoklauf schwadronieren. Nach einer Weile Zuhören bekomme ich geradezu Sypathie mit dem Täter, möchte ihm zurufen: "Töte sie alle, Gott wird sie sortieren!" Doch der Täter ist auch schon tot, er starb auf der Titelseite von "Bild". Ich parke im "Sachsenpark", wo die Sachsen parken, gehe ein paar Meter in die Glashallen zu Fuß. Gleich am Eingang Fernsehdisskussion live, sonore Herrenstimmen fragen sich, was sie falsch gemacht haben bei der Erziehung "unserer Jugend". Eure Verlagsprogramme sind zu schlecht, möchte ich ihnen antworten. All diese "Schnelldreher", hirnrissige Krimis, phantasielose Weltraumgemetzel... Und wer schreibt eigentlich all diese Fantasy mit den immer gleichen Schwert schwingenden Flachzangen, Hexen, Elfen, Zwergen, Zombies, Vampiren? Ohne Autoren-Software geht da gar nichts mehr und möglicherweise hat längst ein perverser Supercomputer die komplette Textproduktion für Bertelsmann, Heyne und Co. übernommen?
Die Leute vom A.M.O.K.-Verlag Traunstein sitzen wie Aussätzige herum, während im Berliner Bibelmobil reger Andrang herrscht. Beim Mitteldeutschen Verlag wartet alles auf den Sachsen-Anhaltinischen Ministerpräsidenten Böhmer, dessen Redenschreiber ihre Ergüsse in einem vom Land finanzierten Halbleinen-Band veröffentlicht haben. Die Stände der kleinen Verlage laden zum Schmökern ein, bei Dielmann lese ich in Herbsts Meeren. Eine wirklich lästige Journalistin bettelt die nette Standbetreuerin um "Rezensionsexemplare" an, die sie auch bekommt. A. N. Herbsts Blog Dschungel-Anderswelt lese ich ziemlich regelmäßig, obwohl der eher zu dieser angestrengten altbundesrepublikanischen "2001-Literatur" gehört. Manchmal trolle ich dort auch, mit Gründen.
Und bei der Aufzeichnung der 3sat-Diskussion "Schirmherrschaft-Bildschirmmenschen" laufe ich zufällig durchs Bild. Wirklich zufällig, als es um jugendliche Selbstdarstellerei geht. Die Diskutanten streiten, ob man die Jugend nur noch abhärten müsse - also jede Splatterei schon im Kleinkinderprogamm zeigen könnte - oder ob es doch noch ein paar Qualitätskriterien und soziale Einflüsse geben sollte. Warum ist das alles so dumm? Das frage ich mich ganz verzweifelt und verbringe den Rest des Nachmittags im Anime-Kino. Wobei mich die Gemetzel auf der Leinwand eher weniger interessieren. Mehr die hübschen Cosplayerinnen, die sich ziemlich ungehemmt in der Kissenlandschaft wälzen. Die Messeleitung schickt uns per Lautsprecher-Durchsage nach Hause. Schade eigentlich, mein Spannertum hat gerade japanische Größenordnungen erreicht. In der Haupthalle wirbt der MDR in Gestalt eines älteren Herren mit Lautsprecherstimme für eine abendliche Lesung mit dem Sprach-Beckmesser Sick. "So ein bullshit!" sage ich zu dem greisen Plapperer, der mich verdutzt anschaut. "Sprachheilkundler Bastian Sick live in der ARD-Radionacht der Hörbücher" - da muss man sich schon sehr zusammen nehmen, um nicht von Gewaltphantasien befallen zu werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

hadie

Was die Arbeitnehmer jetzt brauchen, ist ein Rettungsschirm für die Portemonnaies. (Frank Bsirske)

hadie

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden