Ein deutscher Keks

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Dieser Kernsatz charakterisiert schon recht gut die Handlung des neuen Romans von Jörg-Uwe Albig. „Berlin Palace“ handelt in einem utopischen China des Jahres 2032. Der Werbefilmer Li Eisenstein arbeitet für eine Pekinger Werbeagentur und er soll einem Spot für „Wald“ entwickeln, das neue Parfüm des Weltkonzerns Datong Chemicals. Auf der Suche nach geeigneten Motiven lässt er sich von einem alten Kinderbuch inspirieren: Hänsel und Gretel, zwei Kinder im Wald. Ein Roman über Urängste, von denen auch gleich erzählt wird. Denn die Europäer der nahen Zukunft haben sich im globalisierten Weltwirtschaftswald verlaufen, gehören zu den verarmten, vergreisten und ausgelaugten Zivilisationen, deren Angehörige in den blühenden Ländern Asiens als Gastarbeiter ihr karges Dasein zu fristen versuchen. Sie putzen an Pekinger Straßenkreuzungen für ein paar Yuan Windschutzscheiben, verkaufen Blumen in nächtlichen Szenelokalen und hausen am Stadtrand in Elendsquartieren.

Es war so finster und auch so bitter kalt dort und von deutscher Kultur ist nicht viel geblieben. Ein paar Klischees von Met saufenden Germanen, deutschen Schlagern voller Enzian, Berghütten und die „Pauke geht bis morgen früh“. „Bitte ja sagen, dann bin ich nur für Dich da, O-ya-o-ya-o!“ Ein idealisierter deutscher Wald wird für den Werbefilmer zur Utopie einer anderen, authentischen Existenz, verkörpert von dem Schlagersänger Sigi: „Guten Tag, erste Lied über Liebe in mein Lande. In mein Lande erste Hütte, dann zweite Hütte, dann dritte Hütte. Dann Blume, heißt Enzian. So ist Liebe in mein Lande.“ Man möchte dauernd aus dem Buch zitieren - da macht es auch gar nichts, dass die Liebesgeschichte zwischen Li und der Schauspielerin Olypia nicht so recht trägt. Olympias Name verweist auf die Olympiade von 2008, die für die Chinesen der Auslöser eines neuen „Großen Sprungs“ gewesen sein soll, einer alle Grenzen sprengenden neoliberalen Dauerkonjunktur, die Fukuyamas „Ende der Geschichte“ doch noch verwirklicht. Und man (ich) möchte dauernd mit dem Autor polemisieren, weshalb es doch nicht so kommen kann. Die Unfähigkeit der Festlandschinesen zu Produktinnovation und Qualitätsarbeit, die riesigen innenpolitischen Probleme. Doch „Berlin Palace“ ist längst überall auf der Welt, auch im Berliner Umland.

Auf den langen (Kamera-)Fahrten durch futuristische Stadtlandschaften wird Li von Olympia begleitet, dem Kunstgeschöpf, nun eher aus E. T. A. Hoffmanns „Sandmann“ entliehen: für den meditativ-betäubend-intensiv werbetextenden Ich-Erzähler ist auch sie ein Teil der Konsum-Wunderwelt, wie „das Blütendach der Ewig Leuchtenden Bank, die Windfarm auf dem Trapezdach der Hundert-Chrysanthemen-Versicherung. Ich sah den Konzernturm von Maß-und-Mitte-Elektronik. Ich sah, wie sich alles ineinander spiegelte, wellige Schlieren bildete, Oberflächen von Achaten, sah das Diamantfunkeln der Solardächer.“ Die Verdinglichung rächt sich, denn in Lis Filmchen wirkt Olympia nur gelangweilt und abwesend: „Auf dem schlangenhautbespannten Beifahrersitz des neuen Himmelshirschen wirkte sie nicht glamourös, sondern gleichgültig ... Ihre Gleichgültigkeit steckte an, überzog Kollegen und Produkte mit einem gleichmäßigen Schmelz aus Lethargie. Sogar das Fell der Hunde aus der Köstlich-Köstlich-für-Freunde-Werbung wurde unter ihren abwesenden Augen stumpf.“ Diagnose Midlife-Krisis, ein weiterer Aspekt des Verlaufens.

Sie kamen an ein Häuschen aus Pfefferkuchen fein, das den Namen „Berlin Palace“ trug, eigentlich eine öde Pekinger Vorstadtkneipe. Der Wirt heißt Jogi und er redet gerne über Fußball. Die Gäste sind arme Arbeitsmigranten-Würstchen, die Li noch weiter desillusionieren. Li kämpft dagegen an, plant endlich den großen bahnbrechenden Werbespot mit Pfefferkuchenhaus und Olympia im Wald. Denn „in Deutschland hatten sie Häuser aus Gebäck, bevor wir das Land mit unseren Östliche-Morgendämmerung-Schnellrestaurants überzogen haben. Alles war alt und wild ... Pfefferkuchen. Ein deutscher Keks.“

Doch das aus Industriebiskuits errichtete Pfefferkuchenhaus fällt einem zornigen Blitzschlag der Himmelsmächte zum Opfer und muss neu aufgebaut werden. Die Zwangspause nutzen Olympia und Li zu einer Wanderung im chinesischen Kiefernforst, verirren sich nun endlich, hausen in einer Höhle usw. China tritt als grandios verfremdete Kulisse zurück, die Natur hat ihren nicht ganz unerwarteten Auftritt und sie stellt auch gleich die Eigentumsfrage: Wer mag der Herr wohl von diesem Häuschen sein?

Endlich ein gutes Buch – das gab’s schon lange nicht mehr. Der Roman „Berlin Palace“ von Jörg-Uwe Albig ist im Klett-Cotta-Tropen-Verlag Stuttgart erschienen und kostet 19,90 €.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

hadie

Was die Arbeitnehmer jetzt brauchen, ist ein Rettungsschirm für die Portemonnaies. (Frank Bsirske)

hadie

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden