Unterrichtstag gegen die Produktion

Mikroben-Märchen Frau Corona macht eine Reise. Am Kiosk des Busbahnhofs der ostchinesischen Millionenstadt hat sie sich gerade ein buntes Fläschchen mit aromatisiertem Tee gekauft.

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Alles wartet auf die Öffnung des Bussteigs Nr. 8. Der Nachwuchs der drei großen Influenzastämme A, B und C trägt in diesem Jahr die adretten Uniformen der 4. Mittelschule. Die Halbwüchsigen unterhalten sich lautstark und kichern herum. Die großen und anscheinend schweren Schultaschen stehen zu ihren Füßen.

Beaufsichtigt werden die Schüler von Frau Rhino, der resoluten Oberlehrerin im beigegelben Kostümkleid westlichen Zuschnitts, das sie preiswert im Versandhandel erworben hat. In ihrer Umhängetasche befinden sich der Lehrerkalender, eine aktuelle Lokalzeitung und eine Tüte mit Dampfbrötchen. Kontrolliert wird ihre Tätigkeit durch einen Herren vom RSV, der heraus-privatisierten Aufsichtsinstanz der Schulbehörde. Frau Rhino beeindruckte das nicht. Wenn nötig, springt sie solchen Typen immer noch mit dem Gesäß ins Gesicht. Doch dieser hier scheint nett zu sein, hat eine ausgesprochen angenehme Stimme und spricht sie mit „Frau Kollegin“ an. Er trägt einen maßgeschneiderten Business-Anzug von einem der angesagtesten Nanjinger Modedesigner, unter dem Arm einen superflachen Laptop in schwarzer Samthülle. Der kleine Rucksack auf seinem Rücken enthält nur das Nötigste: den Rahmenlehrplan und die neusten Parteidirektiven, dazu ein Thermobecher mit grünem Tee. Der Blick der beiden Pädagogen fällt auf Corona:

„Wer ist sie?“

„Unsere Pausenaufsicht“, erklärt Frau Rhino. „War mal Referendarin bei uns, wurde aber schon in der Probezeit entlassen. Es folgten Entziehungskuren, Arbeitslager, ambulante Umerziehungsmaßnahmen. Der Umerziehungsträger hat sie einem privaten Dienstleister zugeordnet, der pädagogisches Hilfspersonal verleiht.“

„Hat der Dienstleister keine Dienstuniformen?“, mokiert sich der RSV-Mann. „Die sieht ja wirklich geschossen aus!“

Frau Rhino pflichtet ihm bei: Diese alberne Stickmütze mit den Katzenohren, oder sollten es Fledermausohren sein und die schmuddelige Schlangenlederjacke, völlig unmöglich! Dazu der abgestoßene Wanderucksack, wahrscheinlich voller unnützem Krimskrams.

Der anschwellende Lärmpegel veranlasst Frau Rhino, ihre kräftige Lehrerinnenstimme zu erheben:

„Alle mal herhören! Weil das vorhin ein wenig untergegangen ist, erkläre ich noch mal das Ziel unseres heutigen Unterrichtstags in der Produktion. Es geht um nichts weniger als um die Unterbrechung der globalen Lieferketten, um es der inländischen Wirtschaft zu ermöglichen, neue Lieferbeziehungen innerhalb Chinas zu knüpfen. Ich weiß, ihr werdet den Genossen Xi nicht enttäuschen!“

Das Gittertor zu Bussteig 8 öffnet sich, die Fahrgäste strömen hinaus.

Der Blogger Lang war bisher in den Bildschirm seines Smartphones vertieft gewesen, versucht sich nun zu orientieren und sieht ein bekanntes Gesicht.

„He Corona!“, ruft er. Die Angesprochene grinst breit und macht ein Peace-Zeichen in die Kamera seines Smartphones. Seine absolute Lieblingslehrerin aus der 4. Mittelschule verschwindet zwischen den nachdrängenden Pneumokoggen, blöden Bazillen in lappigen grauen Maoanzügen, aber den eigentlichen Killern im Infektionsgeschäft.

Ein Security-Typ zerrt Herrn Lang zurück, damit sich das Gittertor zu Bussteig 8 wieder schließen kann. Die Bustüren klappen zischend zu, während aus den Lautsprechern der Wartehalle „Santa Claus is coming to town“ ertönt. Der Bus fährt an und fädelt sich behutsam in den dichten morgendlichen Berufsverkehr ein.

Der Blogger Lang ist diesmal nicht mitgekommen, obwohl er eine Monatskarte hat. Nun wird er eine halbe Stunde zu spät kommen in der großen Produktionshalle des Automobil-Zulieferers. Die Stechuhr wird einen Warnton abgeben und der Vorarbeiter wird ihn tadeln. Doch der Blogger ist bester Laune, erinnert sich an Coronas bemerkenswert ahnungsloses Geplapper über so ziemlich jeden Gegenstand, an ihre absurden Gesundheitstipps und an die schweinischen Witze, die sie mit Vorliebe vor der Klasse erzählte. Lang hat seine alte Lieblingslehrerin wiedergesehen und sie ist „still crazy after all these years“. Da gab es doch dieses Lied, Lang sucht auf seinem Handy danach, aber beim Streamingdienst ist alles von Paul Simon gesperrt. Statt dessen spielt der Algorithmus für ihn etwas von Black Sabbath: PARANOIA!

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Geschrieben von

hadie

Was die Arbeitnehmer jetzt brauchen, ist ein Rettungsschirm für die Portemonnaies. (Frank Bsirske)

hadie

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