Der Deutschlandbesuch des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül war wieder ein guter Anlass für das nette Spiel namens Buzzword-Bingo. Das funktioniert ganz einfach: Man nimmt sich einen Zettel und füllt ihn mit 16 Begriffen, den sogenannten Buzzwords, zu deutsch Plattitüden. Sobald vier davon genannt und somit weggefallen sind, – in einer Reihe, ob horizontal oder vertikal ist egal – hat man gewonnen. Jedenfalls, wenn man den „Bingo“-Schrei nicht vergisst.
Unter den wichtigsten Buzzwords, die diesmal gleich gestrichen werden durften, waren zum Beispiel: „Assimilation“. Oder „Zypern“. Oder "Menschenrechte". So sprach Abdullah Gül am Montag davon, dass Deutschlands Visa-Vergabepraxis gegen das Menschenrecht verstoße. Direkt im Anschluss erwiderte die Migrationsbeauftragte Maria Böhmer, dass ohne den 2007 eingeführten Sprachnachweis als Vorbedingung des Visums die Integration (Bingo!), nicht gelingen könne.
Dieses Szenario lässt sich beliebig oft wiederholen, auch im Positiven, wenn Bundespräsident Christian Wulff zum Beispiel den Beitrag der hiesigen Türken für den Standort Deutschland betont, oder wenn Abdullah Gül die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern lobt – wenn alle Schlagwörter beim rituellen Besuch abgearbeitet sind, bleibt die Botschaft auf den ersten Blick gleich: Die Türkei will in die EU – noch ist es aber zu früh, noch sind die Reformen nicht weit genug vorangetrieben.
Buzzword und Bingo
Was Güls aktuellen Staatsbesuch angeht, sollte man sich allerdings nicht lumpen lassen: Auch wenn das Spiel Buzzword Bingo eingeführt wurde, um zu persiflieren, wie sehr eine Debatte über Plattitüden geführt wird, kann man in diesem spezifischen Fall etwas Neues daran ablesen: Die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei haben sich tatsächlich verändert. Sehr sogar, um genau zu sein.
Denn wenn man die Staatsbesuche im geschichtlichen Kontext sieht, gesellt sich ein zweites Narrativ zum ritualisierten Ablauf. Zu Beginn seiner Premierministerschaft wurde Recep Tayyip Erdoğan von der FAZ als ein Mann porträtiert, der erfolgreich einen „langen Weg zur Macht“ gegangen ist. Als ein Mann, der europäische Werte wie Demokratie und Meinungsfreiheit auf die harte Tour zu schätzen lernte, weil man ihn ins Gefängnis steckte, nachdem er ein Gedicht rezitierte, in dem Minarette als „unsere Bajonette“ bezeichnet werden – wenn man an die SVP-Wahlplakate in der Schweiz denkt, wirkt das im Nachhinein wie ein schlechter Scherz. Vor diesem Hintergrund ist die anfängliche Reformgeschwindigkeit auch eine Chance für Erdoğan gewesen, um sich aus den Fängen des Militärs freizuschwimmen.
Es ist die Zeit, in der die türkische Wirtschaft gerade ihre Boomphase erlebt und Erdoğan bei Staatsbesuchen eine Krawatte in Schwarz-Rot-Gold trägt. Die Zeit, in der zwar erwähnt wird, dass die Welt schon nicht untergehe, wenn das türkische Beitrittsgesuch abgelehnt wird, aber man ohne Unterlass darauf pocht, dass die EU kein „christlicher Club“ sei. Die Zeit, in der die eine Seite mehr Reformen fordert und die andere sie freimütig verspricht. Man könnte also meinen, es habe sich nicht viel verändert während all dieser Jahre, als sei das Ritual von 2011 immer noch das aus 2003. Doch es liegen Welten zwischen diesem hofierenden Erdoğan und dem, der 2008 in Köln die Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet und sie damit auf eine Stufe mit „Mord, ethnische[r] Ausrottung, Versklavung“ und „Deportation“ gestellt hat. Der Grund dafür ist einfach: Die Türkei hat bekommen, was sie wollte – nur schmeckt ihr
das nun nicht.
Mehr Macho als Pragmatiker
Denn eine Grundvoraussetzung für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen war die Unterzeichnung eines Zusatzprotokolls
(des Ankara-Protokolls): Dadurch sollte sichergestellt werden, dass die Türkei Zypern als Republik anerkennt. Ebenfalls unvermeidlich war die Forderung, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen – es ist kein Zufall, dass im Juni 2005 in der Folge die Zustimmungsrate für einen EU-Beitritt innerhalb der türkischen Bevölkerung auf einen Tiefstwert
von 52,5 Prozent absackte. Erdoğan, der sich als Mann des Volkes inszeniert, nutzte das zu seinem Vorteil.
Und mittlerweile haben sich die Parameter verschoben; so weit, dass Erdoğan Provokationen bewusst riskieren kann. Früher bot er sich in arabisch-israelischen Konflikten als Mediator an, heute agitiert er einseitig gegen Israel, stellt Forderungen und Ultimaten. Der Journalist Orhan Kemal Cengiz kommentierte das mit dem Tweet: „Wenn Erdoğan nach 50 Israel-Kritiken einmal die Hamas kritisieren würde, hätte er dem 21. Jahrhundert einen großen Gefallen getan.“ Aber Erdoğan arbeitet lieber an seiner Inszenierung und stellt die Gunst der Stunde über diplomatisches Geschick: Er ist mehr Macho als Pragmatiker.
Starke Türkei
Wenn er die in Deutschland lebenden Türken als „meine Staatsbürger“ bezeichnet, wie Anfang 2011 in Düsseldorf, dann spricht er zu einer Klientel, die sich in Deutschland nicht heimisch fühlt. Es sind diese neueren Auftritte, die zeigen, dass die Türkei sich in einer anderen, stärkeren Rolle sieht als noch vor knapp einem Jahrzehnt. Außerdem vertraut Erdoğan in diesem Punkt Abdullah Gül, der dieses Zitat noch vor seiner Ankunft gerade zu rücken versuchte, indem er betonte, dass
der Premierminister faktisch ja nicht falsch liege, weil nur ein Drittel der in Deutschland lebenden Türken auch die deutsche
Staatsangehörigkeit besäßen.
Dass Gül selbst eher den besonnenen Part übernimmt, stellte er in seiner Rede an der Humboldt-Universität unter Beweis – die er nach einem Bombenfehlalarm mit zeitlicher Verzögerung halten musste. Aus seiner Sicht sei ein Beitritt der Türkei zur EU auch im Sinne der Union. Nicht nur auf geopolitischer und politischer, sondern auch auf wirtschaftlicher Ebene. Die erste Reaktion der Kanzlerin blieb ebenfalls erwartungsgemäß: Noch bevor sie den Präsidenten traf, teilte sie bereits mit, dass sie eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei ablehne.
Wenn Abdullah Gül nun davor warnt, dass auch die Türkei einen Punkt erreichen könne, an dem sie sich von einer Mitgliedschaft verabschieden würde, dann ist es rein von der Wortwahl her kein Unterschied zu den Aussagen von früher – inhaltlich jedoch liegen Welten dazwischen. Es wirkt nicht mehr wie eine Plattitüde.
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