Da sind Stimmen in meinem Ohr. Sie sagen, ich solle mich auf die Lautstärke der Geräusche konzentrieren, die man in der Bibliothek der Humboldt-Universität hören kann. Hinter mir raschelt eine Frau mit ihrer Plastiktüte, so laut, dass ich die Flüsterstimmen nur mühevoll verstehe. Sie sagen, ich solle auf die Stifte hören, wie sie ihre Tinte ins Papier drücken, auf das Klackern der Tastaturen, das Rascheln der längst vergilbten Bücherseiten, das nervöse Husten der auf leisen Sohlen hinausschleichenden Studenten, ja sogar die Konzentration sei akustisch präsent. Aber alles, was ich wirklich höre, ist die raschelnde Studentinnen-Tüte keinen Meter hinter mir.
Doch genau darum geht es. Die Stimmen in meinem Ohr sind Teil der Kunstperformance „Quiet Volume“ der Künstler Ant Hampton und Tim Etchels. Der Zuschauer, oder vielleicht besser: der Zuhörer soll einen Alltagsort wie eine Universitätsbibliothek als das erleben, was sie sonst eigentlich nicht ist: etwas Besonderes. Die Bibliotheks-Sitzung steht als regulärer Termin auf dem Programm des Berliner Theaters „Hebbel am Ufer“.
Nicht hetzen lassen!
Nur jeweils zwei Personen gleichzeitig können an der Performance teilnehmen. Also steht im Eingangsbereich ein englischsprechender junger Mann neben mir. Wir kriegen ein Blatt in die Hand gedrückt, darauf die Anweisung, dass wir uns nicht hetzen lassen sollen, dass wir den Wörtern Zeit geben sollen. Eine Mitarbeiterin führt uns in den zweiten Stock der Bibliothek, sie drückt uns jeweils einen iPod samt Kopfhörern in die Hand. Ich setze mich links an den Tisch, auf dem drei Bücher und zwei Notizhefte liegen. Der junge Mann setzt sich rechts neben mich. Es kann losgehen.
Die Stimme in meinem Ohr spricht. „Schau dich um“, sagt sie und ich sehe sehr viele konzentrierte Gesichter, in Falten gelegte Stirnen, über Laptops gebeugte Rücken und ein paar Köpfe, die im Handteller vor sich hinschlummern. Vor allem sehe ich aber Menschen, die zwar in einer Bibliothek sitzen, doch nicht wirklich hier sind. Sie befinden sich zwar in Berlin, eigentlich aber reisen sie gerade durch ihre kleine Fachliteratur-Welt, die voll ist mit Formeln, Seminar- und Zukunftsplänen.
„Nimm das Notizbuch“, flüstert die Stimme, im Hintergrund hört man sanfte Klänge, ruhige Musik. Wie leicht wäre wohl dieses Buch, fragt die Stimme, so ganz ohne Tinte? Würde man den Unterschied merken? Die Druckerschwärze verblasst zusehends, ich kneife die Augen immer fester zu, aber irgendwann bleibt nur noch das blütenweiße Blatt und die Musik im Ohr übrig. Ich drücke meine Hand auf die weiße Fläche, erst leicht, dann immer fester, ich schaue nach rechts auf die Hand meines Partners und er auf meine, alles auf Anweisung der hypnotischen Stimme.
Plötzlich verstummt die Musik und es wirkt, als sei es mit einem Mal unerträglich laut. Der ganze Raum besteht jetzt aus akustischen Nadelstichen, jedes Rascheln stört, jedes Husten reizt das Trommelfell. Die Bibliothek lebt nicht so sehr durch die Menschen, die in ihr sitzen, sondern durch die mühsam unterdrückten Geräusche dieser Menschen.
Keine Bühne, keine Zuschauer
Autoteatro heißt das Konzept. Keine Bühne, keine Zuschauer, selbst die Künstler sind nicht präsent. Die Performance findet an einem Nicht-Ort statt, der von genau zwei Personen, den Besuchern, besetzt wird – denn die Studenten, die um einen herum sitzen, kriegen von der Inszenierung nichts mit. Sie sehen nicht, dass wir ein Buch auf den Kopf gestellt haben, um die Buchstaben als reine Formen zu betrachten, nicht länger als Botschaft, als automatischen Lesebefehl. Die Bibliothek ist nicht mehr Ort des Lesens und Hort des Wissens, sondern erst mal nur ein Raum, in dem Menschen sitzen, Bücher lesen, in die Luft starren, sich an Konventionen halten, etwas zu laut mit ihren Tüten rascheln.
Für den Teilnehmer wird damit jede klassische Rezeption aus den Angeln gehoben, es gibt kein zu betrachtendes Bild mehr, keine Skulptur, die man kriteriengetreu bewerten könnte, keine Maßstäbe, keine Anhaltspunkte, einfach nichts. Der eigene Blick mäandert im Takt der Instruktionen per Kopfhörer. Wie hilfsbedürftig.
Wir lesen in den Büchern, unter anderem in der Stadt der Blinden von José Saramago.Anfangs noch jeder für sich, dann abwechselnd aus einem Buch, ich auf „Seite 345, zweiter Absatz, erstes Wort“, er an anderer Stelle, immer per akkurater Anweisung. Zwei Stimmen lesen in den Kopfhörern mit, sie sind unterschiedlich schnell. Weil wir mit den Fingern zeigen sollen, an welcher Stelle wir gerade sind, dränge ich den Finger meines Partners immer wieder an den Zeilenrand – mein Redner ist schneller als seiner.
Kleiner Fingerkampf
Ich schaue mich kurz um, wir sind komplett unbeobachtet. Wir verlieren uns in unserer kleinen Kunstwelt. Da sind nur noch er, ich und unser kleiner Fingerkampf. Und die Stimmen im Ohr, die mir sagen, ich solle wieder in meinem Notizbuch lesen. Der letzte Satz lautet: „Schau Dich noch eine Minute um und dann verlasse den Raum.“
Später auf den Straßen Berlins hört man anders als zuvor. Da ist nicht mehr der zufällig zusammengewürfelte Klangteppich, sondern alles bekommt seine eigene Tonhöhe. Der Regen plätschert, die Schuhsohlen quietschen, ein ganz bestimmtes Kind plärrt lauter als die U-Bahntüren vor dem Schließen tuten.
Die Geräusche der Stadt klingen jetzt individueller. Man hört zu, freut sich, zwischen ausgetretenen Pfaden einen neuen Zugang finden zu können. Was zählt ist nicht länger der akustische Wald, nicht mal der Baum – man beobachtet einzelne Äste und Verzweigungen, geht ganz nah ran und unterscheidet fein säuberlich. Aber langsam verblasst auch das wieder. Man strengt sich an, kneift die Augen zu, hört genau hin, aber der Trott bricht sich Bahn, irgendwann nimmt man alles nicht mehr so aufmerksam wahr. Die Reise ist zu Ende, die Stadt hat einen wieder.
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