Dass das höchste Gericht das Klimaschutzgesetz der Großen Koalition für teilweise grundgesetzwidrig erklärt hat, ist von der Umwelt- und Klimabewegung euphorisch aufgenommen worden – und auch in dieser Zeitung. Regierung und Bundestag müssen nun auch für die Zeit nach 2030 Emissionsminderungsziele formulieren. Karlsruhe zählt zur staatlichen Schutzpflicht ausdrücklich auch den Schutz von Leben und Gesundheit vor den Gefahren der Erderhitzung. Klima- und Umweltschutz kommt so eine ganz neue Bedeutung zu. Das ist rundum gut. Dennoch lohnt es, diesen Beschluss etwas genauer zu studieren. Dabei wird die Sache dann leider etwas komplizierter.
Aber der Reihe nach: Das Gericht argumentiert erstmals ausführlich mit dem bisher wenig beachteten Grundgesetzartikel 20a. Darin werden die „natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ als schützenswert genannt – auch „in Verantwortung für die künftigen Generationen“. Nun sind die natürlichen Lebensgrundlagen eine Freiheitsfrage. Hinterließe man den Kindern und Kindeskindern eine vom Klimawandel zerrüttete Umwelt und entsprechende Konflikte, schränkte man sie durch heutige Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen in ihren künftigen Lebensoptionen und in ihrer gesellschaftlichen Handlungsfreiheit ein. Diese Erwägung fasst der Beschluss in seiner zentralen Passage zusammen: „Das Grundgesetz verpflichtet (…) zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen“ auch über die Generationen hinaus. Es bestehe der Verfassungsauftrag einer „intertemporalen“ Freiheitssicherung. Dieser Auftrag verbiete eine „einseitige Verlagerung der durch Artikel 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft“.
Neu, geradezu revolutionär, ist daran die starke Akzentuierung einer Haltung des Vorausschauens, die sich in Formulierungen wie „über die Zeit“, „über die Generationen“ und „in die Zukunft“ sehr deutlich zeigt. Zwar fanden manche Grundgesetzkommentare schon vor diesem Beschluss, es ergebe sich aus dem „Umweltartikel“ 20a das Staatsziel einer „intergenerationellen Gerechtigkeit“. Dieses Prinzip hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts nun aber sehr dick unterstrichen. Die Rechtswissenschaft wird kaum noch umhinkommen, sich mit dieser Stärkung jener zeitübergreifenden Dimension von Freiheit im Hinblick auf andere Grundrechte und Staatsziele zu befassen. Und es beginnt an diesem Punkt auch der politische Kampf um die Auslegung dieses Beschlusses. Denn was Karlsruhe sagt, hat stets auch eine allgemeine Bedeutung.
Den Beschluss kann man politisch auf zwei gegensätzliche Weisen verstehen. Möglich ist einmal eine neoliberale Perspektive, wie man sie aus der öffentlichen Debatte um die Schuldenbremse kennt: Diese stelle sicher, heißt es ja, dass zukünftige Generationen nicht vor einen „Schuldenberg“ gestellt würden, der ihnen Handlungsmöglichkeiten verbaue und somit ihre Zukunfts- und Freiheitschancen beschneide. So gewährleiste die grundgesetzliche Verankerung von Sparsamkeit die „intertemporale Freiheitssicherung“.
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie die Neoliberalen beim Klimabeschluss Anleihen nehmen können. Dort heißt es, es dürfe „nicht einer Generation zugestanden werden“, unter „vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen“. Denn damit werde „den nachfolgenden Generationen eine (…) radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben schwerwiegenden Freiheitseinbußen ausgesetzt“. Auch wenn es hier konkret um Treibhausgas geht, dürfte der Grundgedanke im Sinne einer neoliberalen Finanz- und Haushaltspolitik deutbar sein. Ähnliches gilt für die Rentenpolitik. Auch hier wird ja viel von „Generationengerechtigkeit“ gesprochen – womit die Neoliberalen meinen, die demografische Entwicklung verpflichte ganz objektiv zu Senkungen des Rentenniveaus und lasse keine Alternative zu privater Vorsorge.
Im politischen Streit wird nun solchen Argumenten entgegengehalten, es sei nicht minder ungerecht, unseren Kindern kaputtgesparte Infrastrukturen und eine zusammengestrichene Daseinsvorsorge zu hinterlassen. Denn auch so schränke man deren Handlungsfreiheiten ein. Lässt sich nun auch diese progressive Haltung juristisch an den Auftrag zur „intertemporalen Freiheitssicherung“ andocken, der den Klimabeschluss trägt? Ich meine: ja!
So kann sich eine links-progressive Auslegung die Passage im Beschluss zunutze machen, in der es heißt, die „Schonung künftiger Freiheit“ gebiete es, „den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten“. Weiter steht an dieser Stelle, es müssten in allen Lebensbereichen, also „Produktion, Dienstleistung, Infrastruktur, Verwaltung, Kultur und Konsum“ und so weiter „Entwicklungen einsetzen, die ermöglichen, dass von grundrechtlicher Freiheit auch später noch (…) gehaltvoll Gebrauch gemacht werden“ könne. Auch hier bezieht sich Karlsruhe zwar auf CO2, aber wiederum ist der Grundgedanke übertragbar – werden doch Ressourcen wie Infrastruktur, Verwaltung und Kultur mit künftiger Freiheit in Verbindung gebracht.
Abstrahiert man vom Klimaschutz, kann sich eine progressive Auslegung dieses Beschlusses auf eine weitere Ausführung des Gerichts beziehen: Es müsse rechtzeitig und „hinreichend weit in die Zukunft hinein“ ein „Planungshorizont“ entstehen, der Anreiz und Druck genug für die Schaffung einer Situation biete, in der „künftige Freiheit“ zu einem späteren Zeitpunkt eben nicht „plötzlich radikal und ersatzlos“ beschnitten werden müsse. In Kombination lassen sich diese beiden Stellen gerade angesichts der Pandemie-Erfahrungen regelrecht als Aufforderung verstehen, jetzt Vorsorge zu treffen: für das Gesundheitswesen, für Bildung und für bezahlbaren und ausreichenden Wohnraum, für eine insgesamt resilientere Gesellschaft.
Die „intertemporale Freiheitssicherung“ ist also hinsichtlich ihrer Auslegung jenseits der Klimafrage ambivalent. Und mit dem Beschluss, so begrüßenswert er im verhandelten Fall auch ist, verbindet sich noch ein zweiter heikler Problemkreis. Es eröffnet einen Weg, noch gar nicht eingetretene, sondern nur prognostizierte Freiheitsbeschränkungen per Verfassungsbeschwerde geltend zu machen. Bislang galt, dass das nur möglich ist, wenn man „selbst, gegenwärtig und unmittelbar“ von einer solchen Beschränkung betroffen ist. Wenn nun eine unmittelbare Betroffenheit anerkannt wird, die noch gar nicht konkret greifbar, aber „im aktuellen Recht angelegt ist“, besteht zumindest die Gefahr, dass die vorhergesagte Freiheitsbeschränkung der einen zur konkreten Freiheitsbeschränkung der anderen führt. Das ist aus einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Sicht grundsätzlich nicht unproblematisch.
Und mehr noch: Denkt man das weiter, stellt sich in dieser Abwägung heutiger gegen künftige Freiheiten eine Frage, die juristisch schwer zu beantworten ist. Wenn man aufgrund von Prognosen in eine so sensible Gegenüberstellung gehen will, welcher Art müssen diese dann sein? Wissenschaftlich fundiert natürlich! Aber von welcher Wissenschaft? Will man hier zwischen Natur- und Sozialwissenschaften unterscheiden? Was ist mit der Wirtschaftswissenschaft? Wie einhellig müsste der Forschungstenor sein, um eine „künftige Freiheitsbeschränkung“ festzustellen, die eine heutige Freiheitsbeschränkung legitimiert? Zumindest theoretisch könnte der Beschluss insofern den Auftakt geben zu einer in vielerlei Hinsicht problematischen Verwissenschaftlichung von Politik.m
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