Balibar: Prof. Fincancı ist eine der kompetentesten, angesehensten und mutigsten Stimmen

Solidarität Der türkische Staat verhaftete die Vorsitzende der türkischen Ärztekammer Prof. Şebnem Korur Fincancı. Viele Intellektuelle setzen sich für die Freilassung von Prof. Fincancı ein. Philosoph Balibar fordert die sofortige Freilassung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vartan Halis Yıldırım: Prof. Şebnem Korur Fincancı hat eine unabhängige Untersuchung eines möglichen Chemiewaffeneinsatzes durch die türkische Armee gefordert. Seitdem befindet sie sich im Gefängnis. Welche Rolle spielt die aufklärende Forensik bei Kriegs- und staatlich organisierten Verbrechen?"

Étienne Balibar: "Es ist mir eine große Ehre, mit einer Reflexion die Freilassung von Prof. Şebnem Korur Fincanci zu unterstützen, die am 26. Oktober 2022 von der türkischen Staatspolizei verhaftet wurde und gegen die ein Strafverfahren eingeleitet wurde, nachdem sie öffentlich eine unabhängige Untersuchung über angebliche Chemiewaffeneinsätze der türkischen Armee gegen die Bevölkerung und die Selbstverteidigungskräfte in Irakisch-Kurdistan gefordert hatte. Prof. Fincanci ist eine renommierte Rechtsexpertin und amtierende Vorsitzende der türkischen Ärztekammer. Diese Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung steht im Widerspruch zu grundlegenden demokratischen Verfassungsprinzipien und internationalen Konventionen, denen die Türkei zugestimmt hat. Es ist völlig gerechtfertigt, dass Intellektuelle, Rechtstheoretiker, Akademiker und Friedensaktivisten in aller Welt die sofortige Freilassung und Entlastung von allen "Verbrechen" von Prof. Fincanci fordern.

VHY: Was könnten die Gründe für ihre Verhaftung sein?

EB: Offensichtlich ist die Verhaftung von Prof. Fincanci Teil einer allgemeinen Politik, die darauf abzielt, kritische Stimmen im Land zum Schweigen zu bringen. Nicht zufällig zielt sie auf eine der kompetentesten, angesehensten und mutigsten Stimmen, die in der jüngsten Vergangenheit Fälle von Mord und Folter durch staatliche Behörden gegen politische Gegner und emanzipatorische Bewegungen aufgeklärt hat. Also, es entstehen einige allgemeine Fragen von großer Bedeutung auch.

VHY: Könnten Sie auf diese Punkte näher eingehen?

Zunächst stellt sich die Frage nach der Funktion von Experten - allgemeiner gesagt, von Intellektuellen - im öffentlichen Raum und nach den Rechten, die ihnen zugestanden werden müssen. Dies ist eine entscheidende Frage für die Demokratie und ihre Abgrenzung zu autoritären Regimen. Staaten neigen im Allgemeinen dazu, die Möglichkeiten der Öffentlichkeit, den Gebrauch ihres "Gewaltmonopols" zu kontrollieren, einzuschränken. Andererseits ist der Missbrauch dieses Monopols, insbesondere die Verweigerung der Grundrechte (einschließlich des Rechts auf Meinungsäußerung), ein sicheres Kriterium für die Umwandlung eines Staates in einen Unterdrückungsapparat, der bestimmten Interessen dient. Wenn Intellektuelle und Experten ihre Stimme erheben, Verbrechen öffentlich machen und Praktiken kritisieren, die gegen das Gesetz und die Menschenrechte verstoßen, schwächen sie nicht den Staat und demontieren seine legitime Autorität, sondern erfüllen im Gegenteil eine bürgerliche Verantwortung von entscheidender Bedeutung.

Zweitens ist die die Frage der Legitimität internationaler Untersuchungen von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Unterdrückung von persönlichen und kollektiven Rechten und ganz allgemein von internationalen Gerichtshöfen. Dies ist eine äußerst heikle Frage, weil sie das Verständnis des Begriffs der politischen Souveränität berührt. Es war einer der großen Fortschritte des "Rechts, Rechte zu haben" (Arendt) im 20. Jahrhundert, dass Staaten durch internationale Rechtsinstitutionen kontrolliert werden können, nicht nur international, sondern auch bei einigen innerstaatlichen Aktivitäten, die die Rechte der Person berühren. Wir beobachten natürlich, dass viele Staaten diese Regel ablehnen, entweder in der Praxis oder sogar im Prinzip. Auf jedem Fall, indem sie dazu gezwungen werden können, sie zu akzeptieren, insbesondere durch die Stärke der öffentlichen Meinung, ist ein Schlachtfeld für den Fortschritt der Menschheit und den Fortschritt der Freiheit.

Dies gilt insbesondere für die Frage der Aufrüstung, der Kriegspraxis und des Einsatzes von "Massenvernichtungswaffen", die unsere dritte Frage darstellt. Sie ist noch schwieriger als die ersten beiden, denn die Abschaffung des Krieges als Instrument der Politik und die Schaffung eines Zustands des "ewigen Friedens" (in den Worten des Philosophen Immanuel Kant) scheint ein völlig utopisches Projekt zu sein, und zwar in zunehmendem Maße. Die Praktiken der Brutalität und des Mordens bilden eine Kontinuität, die von einzelnen Waffen bis zur Atombombe reicht, mit einer zunehmenden "Verwirrung" zwischen innerem und äußerem Krieg, "Verteidigung" und Aggression. Ein wichtiger Unterschied in dieser Kontinuität ist jedoch das völkerrechtliche Verbot des Einsatzes chemischer Waffen, der Folter und der gezielten Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Auch hier neigen die Staaten dazu, diese Verbote zu ignorieren, und zwar umso mehr (aber nicht nur), wenn sie sich ultranationalistische Ideologien zu eigen machen. Jeder Erfolg bei der Verurteilung solcher Praktiken ist gut für die Demokratie und den Frieden.

VHY: Was würden Sie in diesem Fall vorschlagen, lieber Etienne?

EB: Prof. Fincancı war an allen drei Fronten dieser demokratischen Kämpfe aktiv und bemerkenswert mutig. Sie verdient nicht nur Bewunderung, sondern auch Unterstützung. Wir müssen ihre Freilassung und Entlastung von den böswilligen Anschuldigungen fordern, die ihre eigene Regierung gegen sie erhoben hat."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden