Die Fahrt zu ihm wird eine Sommer-Landpartie. Wo sind wir? Im Altenburger Land. Nach Verlassen der Autobahn A 72 Richtung Waldenburg sanfte Hügel, viel Fachwerk, Ortsnamen wie Bayern, Franken, Schwaben, Flemmingen, benannt nach der Herkunft der Siedler im 13. Jahrhundert. Dort wohnt er, in Göpfersdorf: Günter Lichtenstein, allseits gefragt, gegrüßt und geschätzt als der Leitermann. Inhaber von sieben Baumärkten und einem Online-Shop, die Leitermann heißen, weil seine Familie damit begonnen hat: Leiterbau und Eisenwarenhandel.
Ich besuche nicht den Leitermann, sondern die „Anita und Günter Lichtenstein Stiftung“. Sie, 68, und er, 73, haben in etwas mehr als 40 Jahren etwa 10.000 Grafiken, Handzeichnungen, Aquarelle und noch einmal mindestens 350 Leinwandbilder gesammelt. Ich werde alles sehen, sagt Lichtenstein beim Empfang und bremst. Er führt mich ins Verwaltungsgebäude seiner Baumärkte, als wollte er meine Vertrauenswürdigkeit für den inneren Bezirk prüfen. Das einzige Attribut, das den Sammler in Richtung Kunst schiebt, ist seine Brille: klein, runde Fassung, Auffälligkeit in Maßen. Die Bilder befinden sich im übernächsten Kreis.
Weiterfahrt zum nächsten: das Wohnhaus der Lichtensteins. Über dem Erdgeschoss im Schwarz des Fachwerkbalkens: „Restauriert von Anita und Günter Lichtenstein 1994/95“. Auf dem Hof stehen beidseitig vom Wohnhaus die Stallgebäude. Links im Kuhstall eine Galerie und in den Obergeschossen beider Ställe der Fundus: Grafikschränke über Grafikschränke, auf Schienen herausziehbare Gitterwände voll mit Bildern. Jetzt bin ich im innersten Kreis. Er zeigt mir in größter Ruhe alle, die man hier im mitteldeutschen Raum von Nachkrieg bis heute kennt: Kurt Querner, Max Uhlig, Moritz Götze, Hartwig und Wolfram Ebersbach, Karl Krug, Hubertus Giebe, Heinz Zander, Hans-Hendrik Grimmling, Harald Metzkes, Ernst Hassebrauck, Otto Niemeyer-Holstein, Stefan Plenkers, Gil Schlesinger. Mehr können sich meine Augen gar nicht merken. Der Sammler öffnet mir die Tür zum Libuda-Raum, den ihm Walter Libuda als Dank für Aufenthalt auf dem Lichtenstein’schen Hof ausgemalt hat.
Wem die Namen nichts oder wenig sagen, dem sei verraten: Es handelt sich um Mitteldeutschlands Elite der vergangenen 70 Jahre. Dazu ein paar „Verirrte“ wie Niemeyer-Holstein und Oskar Manigk von Usedom im Norden. Abzuziehen sind Heisig, Mattheuer, Tübke, Sitte. Sie waren für den beginnenden Sammler schon „durch“: preislich und in der allseits anerkannten Bedeutung.
Schrauben, Töppe, Leitern
Begonnen hat es Mitte, Ende der 1970er-Jahre. Günter Lichtenstein war väterlicherseits Sohn eines Gastwirts, mütterlicherseits Enkel eines Eisenwarenhändlers, mit vielerlei Familienerwartung beladen. Die Eisenwaren wogen schwerer, er baute das Geschäft aus und stieg zur DDR-Zeit mit 18 Mitarbeitern für Lager, Verkauf, Transport und Leiterherstellung zum zweitgrößten Privatbetrieb im damaligen Bezirk Leipzig auf. Seine Frau wird mir später sagen, dass sie immer in der Furcht lebten, enteignet zu werden.
Anita Lichtenstein hätte sich vorstellen können, Lehrerin für Deutsch und Kunsterziehung zu werden, aber jetzt steckte sie fest. In Familienunternehmen geht es nicht anders. Bis Mitte der 1970er-Jahre tat sich viel mit Schrauben, Kochtöppen und Leitern, aber nichts mit Kunst. Den Anfang verdankt Günter Lichtenstein Max Reinhold, der in Altenburg die Schnuphase’sche Buchhandlung führte. Eines Tages offeriert ihm Reinhold zwei grafische Blätter vom ortsansässigen Heinz Olbrich. Zehn Mark beide. Stil und Motiv „Postkarte“, eines zeigt das Schloss von Altenburg. Der „Fehlkauf“, sagt Lichtenstein schmunzelnd, wurde der Anfang. Ende der 1970er-Jahre schrieb er sich in Leipzig zum Studium ein, Ökonomie. Alles Schritte, um die Enteignung abzuwenden. In Leipzig besuchte er von nun an die Galerie am Sachsenplatz, die erste des entstehenden staatlichen Kunsthandels in der DDR, mit ihrem charismatischen Chef Hans-Peter Schulz. Ab jetzt kaufte der Kaufmann auch Kunst. Ausschließlich Grafik. Die DDR war ein Leseland, sagen die Literaten, die DDR war ein Grafikland, sagen die Sammler, und beide haben recht. Ganz, ganz langsam rollte das Sammeln an.
Als der Kunst-Autodidakt irgendwann den Mut aufbrachte, Künstler in ihren Ateliers zu besuchen, direkt aus Grafikschränken kaufte, aus regelmäßigen Kontakten Freundschaften wurden, er auch schon mal zur Druckgrafik die Vorzeichnung erwarb und überhaupt auf Zeichnungen umschwenkte, war die Lawine nicht mehr aufzuhalten. Ehefrau Anita folgte der Leidenschaft ihres Mannes in die Ateliers. Sie ist Teil der Freundschaften, die jetzt entstanden: zu Künstlern wie Morgner, Münzner, Ranft, Schnürpel, Weidensdorfer. Heute sagt sie, dass sie den Kaufhunger ihres Mannes schon mal bremste, wenn in der Firma das Geld knapp war, aber eigentlich auch nicht bremste.
In den 1980er-Jahren wuchs das Sammeln langsam zu einer gefährlichen Obsession heran. Die erhielt nach der Wende ungeahnte Nahrung. Als die Biografien vieler Ost-Künstler wegen vorgeblicher „Staatsnähe“ in den Keller geredet worden waren, sank auch der Stern der ostdeutschen Malerei. Es ging nicht nur um Heisig, Tübke, Mattheuer und Sitte, die jetzt nur noch mit dem Zusatz „Staatsmaler“ in der Öffentlichkeit auftauchten, es ging um alle in der DDR gebliebenen Künstler. Für West-Onkel Baselitz keine Künstler, sondern durchweg Arschlöcher. Bei ihrem Abstieg half der Kunstmarkt in den frühen 1990er-Jahren mit: Die Preise rauschten in den Keller. Wer in der DDR keine Sammler besaß, fand jetzt keine mehr. Das war die Stunde des Günter Lichtenstein.
Der Verkauf ärgert ihn noch
Er sammelte die Scherben vom zerbrochenen Krug mit der DDR-Kunst ein und wurde zum „Wendegewinnler“. Er beschützte, was zu Beginn der deutschen Einheit keiner wollte. Dem Zeitenwechsel folgte der Bildersturm. Die ostdeutschen Museen hatten den Kopf in den Wolken. Für die DDR-Kunst hieß die Parole: Ab nach Beeskow ins Kunstarchiv zu den 17.000 „Ausgesammelten“! Oder nach Göpfersdorf zum Leitermann. Plötzlich besaß seine Sammlung eine Mission und der Kaufmann und seine Frau waren Sammler geworden. Die Gelegenheit war’s.
Die Sammlung nahm jetzt Jahr für Jahr sprunghaft an Umfang zu. Dabei musste er sich in dieser Zeit um sich selbst kümmern. Als beim Umbau zu den Leitermann-Baumärkten Anfang der 1990er jede Mark knapp war, hat er einmal aus der Sammlung verkauft – drei Bilder. Noch heute ärgert er sich. Der Verkauf hat kein Geld gebracht, das wirklich geholfen hätte. Wer für kleines Geld kauft, dem wird auch nur für kleines Geld abgekauft. Eine Dummheit, sagt er heute.
In der Hitze des Sommers trinken wir ein kühles Mineralwasser. Als er nachschenkt, frage ich: Ist die Sammlung abgeschlossen? In die neue Leipziger Schule und das Werk der noch Jüngeren will er nicht mehr einsteigen. Er sammelt weiter, heute, um Lücken bei denen zu schließen, die er bereits in seiner Sammlung hat. Das schon, sagt er. Die Sucht hört nicht auf, sagt er. Die Frau bestätigt es und blickt auf ihren Mann, ob noch ein Geständnis kommt.
Mit Eintritt ins Rentenalter hört die Arbeit für das Leitermann-Unternehmen nicht auf. Das ist in einem Familienbetrieb undenkbar. Die beiden ältesten Kinder, Tochter und Sohn – Lichtensteins haben vier Kinder – steigen ins Unternehmen ein und der Vater nicht aus. Doch mit der Sammlung musste etwas geschehen: 2012 wurde mit Einverständnis der erbberechtigten Kinder die „Anita und Günter Lichtenstein Stiftung“ gegründet, mit Kuratorium und allem Stiftungs-Pipapo und jetzt ohne Erbberechtigung. Damit steht fest: Die größte Privatsammlung mitteldeutscher Nachkriegskunst bleibt zusammen, kein Stück daraus ist mehr veräußerbar.
Ich denke auf der Rückfahrt: Es gibt diese Sammler und diese. Es gibt A-Sammler wie François Pinault, der in der Pariser Börse sein drittes Privatmuseum eröffnet hat und gegen Bernard Arnault im Wettkampf der sammelnden Milliardäre punktet, und es gibt B-Sammler, die ihre Sammlung mit einigem Geld auf Tournee durch öffentliche Museen schicken, damit ihr Wert wächst, und es gibt C-Sammler wie Günter Lichtenstein und seine Frau, die es für die Kunst tun.
Deshalb kennt sie vermutlich außerhalb Mitteldeutschlands kaum einer. Er musste immer erst ein Bild lieben, bevor er es gekauft hat. Frage an die Dialektiker: Wie viele Bäume sind ein Wald? Wie viele Bilder sind eine Sammlung? Der Moment, sagt er, ist ihm entgangen. Vielleicht wird die Stiftung eines Tages einem großen Museum in Sachsen oder Thüringen angegliedert, bekommt dort Räume oder einen Anbau. Dann wird man die nach der Wende aus sträflicher Ignoranz in den Keller gerutschte Ost-Kunst in der Beletage bestaunen. Das wäre Genugtuung genug. Ein eigenes Museum? Hier im vergessenen Altenburger Land? Nein, nein, sagt er.
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