Das aufsteigende Bläschen im Sektglas

Soziale Plastik Europas Kulturhauptstadt Graz macht Nächte zu Tagen

Vom Schlossberg aus sieht man auf die Kulturhauptstadt Europas am besten. Dieser Weg hoch hinauf - zweihundert Stufen! - sei als erster empfohlen. An der Stadtperipherie liegt wie eine Blechkapsel das Arnold-Schwarzenegger-Stadion, mit dessen Namensgebung Graz beweisen wollte, dass eine Hollywood-Karriere in der Grazer Umgebung begonnen hat. Eigentlich braucht Graz solche Beweise nicht. Die Stadt hat selbst genug Originales und bekommt in ihrem Kulturstadtjahr zur künstlichen Mur-Insel, die ausschaut wie eine Riesen-Muschel aus Aluminium, noch eine Kunsthalle, deren Extrem-Architektur vom Schlossberg aus bereits zu ahnen ist.

Wenn man beim Warmwerden mit der Stadt etwas kritisch mit ihr umgeht, findet man in Graz auch Plagiate. Im Rücken der Aussichtsplattform steht beispielsweise ("beispielsweise" ist gut, es handelt sich um das Wahrzeichen der Stadt!) der Grazer Uhrentum und in seinem Rücken hockt eine schwarz-hölzerne Kopie. Was hier als Schatten-Installation gemeint ist (auch die schönen Dinge werfen schwarze Schatten!), ähnelt in der Idee ein wenig dem verdoppelten Gartenhaus Goethes in Weimars Kulturhauptstadtjahr. Noch nicht bemerkt? Unten in der Stadt entdeckt man ein Wohnhaus, dass außen mit begehbaren Gerüsten und Treppen umbaut ist, die an die verkleinerte Ausgabe des Pariser Centre Pompidou denken lassen. Vor dem Betreten ist eine Unterschrift zu leisten, mit der man sich auf eigene Verantwortung für schwindelfrei erklären muss! Wahrlich, es findet sich reichlich Originales. Der Schlossberg, den jeder Besucher für den ersten Überblick besteigen sollte, öffnet sich an seinem Fuß zu einem "Berg der Erinnerungen". Das Tor lockt in ein Stollenlabyrinth. Was darin ausgestellt wird, haben nicht Museumsleute, sondern alle Grazer höchst persönlich zusammen getragen. Das Unternehmen hätte Josef Beuys gefallen - eine ganze Stadt als soziale Plastik. 20.000 Erinnerungsstücke waren das beeindruckende Resultat eines riesigen Kommunikations- und Rechercheprojekts im Vorfeld. Mit den eintausend, die ausgestellt sind, öffnen die Grazer ihre ganz privaten Archivkammern.

Das große Grazer Original ist aber doch nicht Arnold Schwarzenegger, sondern der Stückeschreiber Werner Schwab, Dichter und Anarchist, vielleicht einzig (unserm!) Rainer Werner Fassbinder verwandt. Als Schwab mit 35 Jahren am Silvestertag des Jahres 1993 seinen Anarchismus (absichtlich oder fahrlässig?) gegen sich selbst richtete, fand man ihn mit 4,1 Promille Alkohol im Blut und konnte keine Rettung mehr leisten. Das Grazer Off-Theater Die Bühne lud in die Uhrenturmkasematte, die innen aussieht wie ein Stück der Leipziger Moritzbastei, unter dem Titel Planet Schwab zu einer dramatischen Collage seines Werks. Schwabs 18 Theaterstücke, alle zwischen 1990 und 1993 entstanden, sind so radikal illusionslos gegenüber der Welt, dass die rüde Sprache noch heute erschüttert. Die fand einer, dem angesichts der Scheinheiligkeit seiner Landsleute (oder meinte er gar die Scheinheiligkeit der Welt?) nichts heilig war. Das Spiel für fünf Schauspieler bedient sich von den wichtigsten Stücken des Grazers. Auch wenn die Figurenbögen bei einer 100-Minuten-Collage immer wieder abreißen müssen, stehen sie doch für Augenblicke vor den Zuschauern: diese erschütternd gedemütigten und deshalb so aggressiv handelnden Schwab-Helden. Sie sind "in die Welt gevögelt, aber sie können nicht fliegen!", hatte der Dichter über sie gesagt. Schwabs Weltsicht wurde glücklicherweise von den Darstellern und ihrem Regisseur Georg Biron nicht tragisch gedeutet, sondern so böse und schwarz es ging. Man dressierte sich nicht auf Zwischentöne, sondern spielte mit Mitteln, die zum Kabarett gehören. Das gelang in diesem Gemäuer so authentisch, dass für die Dauer des Spiels die Wut des toten Dichters auferstanden war.

Draußen hatte inzwischen eine Sommernacht begonnen. Gegenüber dem Schlossberg stand in die Schwärze der Nacht das Wort "Regen" geschrieben. Siehe, es regnete (nur für Minuten)! Später verbanden sich die erleuchteten Fenster des Hauses zu Grußworten wie: "Hallo, Ina" und "Berti liebt dich". Ein 20-stöckiges Bürohaus war zum Mega-Handy-Display geworden und verschickte in die Nacht Wunsch-SMS´s. Beim Abgang vom Schlossberg in die Stadt saßen die Liebespaare auf den Verschnauf-Bänken und warteten auf das Aufleuchten ihrer persönlichen SMS-Bestellung.

Am Fuß des Bergs war alles auf den Beinen: Grazer und Gäste. Scheinwerfer projizierten - jetzt aber zufällig - die Schatten abgestellter Fahrräder an eine Wand. Von Haus zu Haus neu stand der Graz-Besucher vor der Frage, welche der Einladungen zu all den Ausstellungen - die in dieser langen Nacht ihre Türen dem Fremden offen hielten - er annehmen sollte. Im fünften Haus nach der Burgbergecke stellte eine Exposition den 1914 in Sarajewo ermordeten Thronfolger vor und beschrieb ihn als drohenden Schrecken für das K.u.K.-Österreich. Sollte damit der fatale Schluss nahegelegt werden: Wie gut, dass er erschossen wurde?! Im siebten Haus konnte man, was alle schon seit Stunden taten, sich der "Lust der Kunst" hingeben. Nur die große Bühne vor dem historistischen Rathaus schwieg. Dafür lief im Renaissance-Innenhof des Landhauses eine Riesenparty. Ganz ohne Glaspfand-Marken. Ausstellungen, Konzerte, Filmvorführungen trieben noch nach Mitternacht Tausende durch die Straßen. Manchmal folgte man auch einfach einem schönen Mädchen. Wie fühlt sich das aufsteigende Bläschen im Sektglas? So? In Graz ist derzeit ganz real eine Vision zu erleben: Alles ist Kultur, nicht Currywurst, nicht Bierbüchse.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden