Der ewige Erik

Psychologie Hans-Ulrich Treichel bleibt sich treu, sein neuer Roman „Schöner denn je“ handelt von leisem Neid und großer Liebe
Ausgabe 41/2021
Grafittikünstler an der Berliner Mauer, um 1989
Grafittikünstler an der Berliner Mauer, um 1989

Foto: Serienlicht/IMAGO

Hans-Ulrich Treichels Romane durchziehen seit nahezu 25 Jahren zwei Hauptthemen. Jenes, das er mit seiner Erfolgsnovelle Der Verlorene 1998 angeschlagen hat: Verlust und Suche nach Erinnerung. Der Bruder des Erzählers war auf der Flucht vor der Roten Armee kurz vor Kriegsende verloren gegangen, wurde aber seitdem von den Eltern gesucht. Neben der psychologischen Studie eines Jungen, der bei den Eltern früh im Aufmerksamkeitsschatten seines verlorenen Bruders steht, zeichnete Treichel ein genaues Porträt der frühen Jahre der BRD, zwischen Adenauer-Mief und Wirtschaftswunder. Dem Verlorenen folgten mindestens noch zwei Romane, die sich dem Thema anschlossen.

Dass bei einer Vorstellung seines neuen Romans Schöner denn je noch einmal der Verlorene in den Blick gerät, liegt daran, dass es auch im neuen Buch eine Konkurrenzsituation gibt, die Treichel nach den Regeln menschlicher Verhaltensmuster auskosten kann. Was wir vermutlich kennen: Seit der Schule gibt es einen, dem alles besser gelingt als uns selbst. Der kann nichts dafür, dass er beneidet wird, und spielt es auch nicht aus, aber wir sehen uns mit ihm im Lebenswettlauf. So jedenfalls Andreas, dem Erik immer voraus ist. Er kann Frauen haben, von denen Andreas nur träumt, ein Auto noch vor dem Abitur und bereits eine Wohnung am Studienort, bevor das Studium überhaupt begonnen hat. Einmal so wie Erik sein! So lautet das stille Gebet. Hier schließt Treichel an sein zweites Hauptthema an: Menschen, die im Leben nicht glänzen, schüchtern sind, mitunter jämmerlich. Solche Antihelden – wie wir ihnen beispielsweise in Der irdische Amor begegnen konnten –mag Treichel.

Der Erzähler hat fest damit gerechnet, dass Erik Architektur studieren wird, und hat sich selbst für das Fach eingeschrieben, trifft ihn dort aber nicht an. Fast 20 Jahre bleibt Erik für Andreas verschwunden. Dann hilft der Zufall nach, und sie begegnen sich. Im Westberlin der 1970er, da, wo Treichel sich auskennt, weil er dort selbst studiert und als Hochschullehrer gearbeitet hat. Bei Andreas flammt der Lebenswettlauf sofort wieder auf. Erik ist doch Architekt geworden, sogar Filmarchitekt, mit Aufträgen aus Hollywood – Andreas nur ein Romanist in der Lehrerfortbildung. Das „nur“ denkt sich Andreas. Aber damit gibt Treichel seinen Antihelden nicht verloren. Plötzlich eröffnet sich eine Chance für den, der sich in fast neurotischer Manier unterlegen fühlt. Der Schwarm seiner begeisterten Liebe für den französischen Film, ein Star vom Kaliber Romy Schneiders, ist plötzlich am Telefon. Sie wollte Erik sprechen, aber der ist in Hollywood, weshalb der andere Eriks Wohnung nutzen darf. Andreas verschweigt Erik, dass er Hélène kennenlernt und ihr Berlin zeigen darf. Endlich macht das Leben ihn zum Auserwählten. Auch wenn nicht viel passiert zwischen den beiden und der Star ihm nur auf Star-Art freundlich dankt: „Leben Sie wohl, und nochmals Dank für alles!“, könnte es doch sein, dass Andreas ab jetzt tatsächlich wohler lebt. Groß dürften die Chancen nicht sein, aber da wird der Vorhang auf Seite 175 schnell zugezogen.

Handwerklich fein erzählt

Wie Treichel seine Hauptfigur um den Triumph im Lebenswettbewerb herumführt und dabei alle psychologischen Möglichkeiten ausreizt, das macht diesen kleinen Roman, der an Figuren aus den Romanen von Wilhelm Genazino und den Filmen von Woody Allen erinnert, zu einem Lesevergnügen. Der Leser wird dem Tollpatschigen gern die Daumen drücken, könnte er es doch selbst sein. Ein Leben im Wettbewerb mit Siegern und Verlierern wie im wirklichen Leben – das ist die dezent untergemischte Lebenswahrheit.

Dass Schöner denn je noch auf der ummauerten Insel Westberlin spielt, Hélènes Anruf nicht auf Eriks Handy ankommt, denn das Handy ist noch nicht erfunden, ist Treichels Vereinbarung, damit er die Geschichte so erzählen kann, wie er sie erzählen will. Ein Empfehlungsschreiben für den Eintritt in die Avantgarde ist der Roman nicht, aber ein handwerklich feines Erzählen, das einigen Witz aus seiner Geschichte zu ziehen weiß.

Info

Schöner denn je Hans-Ulrich Treichel Suhrkamp 2021, 175 S., 22 €

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Geschrieben von

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