Jetzt sind es drei. Mein Kunsterziehungslehrer sagte immer: „Drei sind ein Prinzip.“ Bachmannpreis an Helga Schubert, Büchner-Preis an Elke Erb und jetzt Uwe-Johnson-Preis an Irina Liebmann. Drei Frauen in der deutschen Literatur mit Herkunftsland DDR. Wobei das im Detail unpräzise ist: Elke Erb stammt aus dem Rheinland, Irina Liebmann wurde in Moskau geboren. Trotzdem drei Schriftstellerinnen aus dem deutschen Osten auf dem obersten Treppchen – was will man mehr im Jahr 30 der deutschen Einheit. Oh, man will viel mehr! Literaturpreise wurden schon immer reichlich an den Osten vergeben. Im zweiten Jahr seiner Existenz ging der Bachmannpreis bereits an Ulrich Plenzdorf, von 1986 bis 1990 ging er ausschließlich an Ost-Schriftsteller. Beim Büchner-Preis waren sie auch gut dabei: von Christa Wolf bis Wolfgang Hilbig, von Sarah Kirsch bis Volker Braun. Heiner Müller, Durs Grünbein und Reinhard Jirgl noch dazu. Vielleicht war das schon seit den 80er Jahren der Versuch von Jurys, kritischen Autoren in der DDR mit einem großen Literaturpreis Schutz zu geben vor staatlichem Druck und die fehlende Anerkennung im eigenen Land auszugleichen. Deshalb gingen im Einwohnervergleich wahrscheinlich mehr Preise in den Osten, als in Westdeutschland blieben.
Christa Wolf in der Kritik
Wenn wir schon bei Preisen sind: Welchen Preis für eine Dichterin hatte Erb nicht, bevor sie den Büchner-Preis erhielt? Der Skandal liegt woanders. Kein großer deutscher Verlag hat vor und erst recht nach der Wiedervereinigung ihre Gedichte veröffentlicht. Wäre nicht die Leidenschaft des Schweizer Verlegers Urs Engeler gewesen, hätten wir seit mehr als 20 Jahren kein Gedicht von Erb in einem Buch lesen können. Lassen wir die Preise. Gerechtigkeit in der Kunst gibt es nicht. Drei große Preise in diesem Corona-Sommer an ostdeutsche Frauen sind eine tolle Sache.
Der Streit des Westens mit dem Osten über Literatur begann bereits, bevor die Mauer gefallen war. 1987 hat Marcel Reich-Ranicki in einer an Schärfe kaum zu überbietenden Art und Weise Christa Wolf attackiert. Ihre Laudatio zur Verleihung des Kleist-Preises an Thomas Brasch bot ihm Anlass. Dass eine bekennende Ost-Autorin sich anmaßte, über einen Schriftsteller zu sprechen, der die DDR nicht freiwillig verlassen hatte, sah MRR als letzten Beweis für ihr Taktieren an. Wie könne eine solche Person „eine gesamtdeutsche Mahnerin“ sein, fragte er in der FAZ vom 12. November 1987. Reich-Ranicki, ein Mann mit großen Verdiensten um die Literaturkritik, war zur Gesinnungskritik übergegangen.
Der gleich nach der Wiedervereinigung ausbrechende deutsch-deutsche Literaturstreit Anfang der 1990er spülte alles noch einmal hoch. Wieder lief es über Christa Wolf. Ihre Erzählung Was bleibt bot die ideale Vorlage. In der Dokumentation dieses Streits schreibt Thomas Anz, dass die Erwartung bestand, die BRD werde die Selbstbefreier aus der DDR nicht nur unterstützen, sondern sie „mit der Selbstherrlichkeit einer Siegermacht auch kulturell deklassieren, vereinnahmen und um jeden Rest einer eigenständigen Identität“ bringen. Dem Sieger gehe es, schreibt der damalige Professor von der Uni Marburg, um „die Disqualifizierung der angesehensten DDR-Schriftstellerin als Versuch, die westdeutsche Überlegenheit und die ostdeutsche Minderwertigkeit auch auf dem Gebiet der Literatur zur Schau zu stellen“.
Systematische Abwertung der Ex-DDR-Autoren auf der einen Seite, das Füllhorn mit den Literaturpreisen auf der anderen – zusammen schwer zu erklären, und außerdem sind es olle Kamellen. Hm. Meinen Sie? Gut, ich mache einen Schnitt, frage Schriftsteller aus dem Osten. Sind die Literaturverhältnisse in Ost und West vereint?
Das Feuilleton ist ein oft wiederkehrendes Reizwort. Es ist für Bücher ein wichtiger Produktbeschleuniger – und es fällt für Ost-Autoren weitgehend aus. Darauf kommen in ihren Antworten Kerstin Hensel, Reinhard Kuhnert und Ingo Schulze zu sprechen. Hensel bietet eine Erklärung: „Auffällig ist, dass in der Literaturkritik, im Feuilleton, keine oder kaum ostdeutsche Kritiker vertreten sind. Das halte ich wirklich für ein Problem.“ Der Romanautor, Stückeschreiber und Liedermacher Reinhard Kuhnert (Jahrgang 1945, geboren in Berlin, zuletzt veröffentlicht: In fremder Nähe, Roman) auf die Frage, ob er noch immer eine Teilung der deutschen Literaturszene wahrnehme: „Für mich ist sie noch immer geteilt, nicht zuletzt durch das Desinteresse des großen westdeutschen Feuilletons an Publikationen (meist kleiner) ostdeutscher Verlage, was auch die Ablehnung westdeutscher Buchhandlungen von Lesungen dieser Autoren zur Folge hat. Es gilt also noch immer: Der Ostdeutsche – dein unbekannter Nachbar.“ Der Autor dehnt seine Kritik auf die Zusammensetzung von Jurys aus: „Wenn von sieben Jurymitgliedern für den Leipziger Buchpreis sechs im Westen sozialisiert wurden und nur einer aus der ehemaligen DDR kommt, stellt sich die Frage: Wer lässt das zu? Wie steht es um das ostdeutsche Selbstwertgefühl?“ Er hat sich die Viten der Juroren angesehen, hat ausgezählt. Das macht der Ostdeutsche, wenn er Gründe für seine Zurücksetzung sucht.
Michael G. Fritz aus Sachsen (Jahrgang 1953, lebt in Dresden, zuletzt veröffentlicht: Auffliegende Papageien, Roman) hat auch etwas ausgezählt. Die Zahl der Ex-DDR-Schriftsteller, die mit vom Feuilleton geführter Hand in den deutschen Schoß aufgenommen worden sind: „Man braucht von meiner Generation ganz oben nicht mehr Schriftsteller aus dem deutschen Osten als diejenigen, die man aufgebaut hat. Die Namen sind bekannt. Es hängt auch mit dem Markt zusammen, der möglicherweise nicht mehr als die wenigen bekannten verträgt. Sonst müsste der Kuchen noch mehr geteilt werden.“
Ingo Schulze (Jahrgang 1962, geboren in Dresden, lebt in Berlin, zuletzt: Die rechtschaffenen Mörder, Roman) stellt zuerst das Gelungene heraus: „Vergleichsweise halte ich die Schriftsteller Ost und West für am besten miteinander verbunden, da gibt es tatsächlich so etwas wie eine Normalität.“ Im gesamten Literaturbetrieb sieht es seiner Meinung nach anders aus. Das beginnt für ihn bei der regionalen Zuordnung: „Ich habe nichts dagegen, als ostdeutscher Schriftsteller bezeichnet zu werden, aber nur, wenn dann jemand aus Köln als westdeutscher und jemand aus Bayern als süddeutscher Schriftsteller bezeichnet wird.“ Schulze sieht die noch bestehende Teilung aber nicht in regionalen Etikettierungen, für ihn gibt es ein generelles Problem: „Der Westen wird als Normativ angesehen, der Osten als auf dem Weg dahin oder, das ist auch noch lobend gemeint, als ‚angekommen‘.“ In diesem Problem zeigt sich der tief verinnerlichte Anspruch auf Deutungshoheit des Westens, wie fast immer vertreten vom Feuilleton.
Dort werden seit dem Literaturstreit Normative verkündet und ihre Einhaltung überwacht. Dass sich das westdeutsche Feuilleton nach 30 Jahren Einheit noch nicht gewandelt hat, hat eine Ursache, die Hensel und Kuhnert bereits angesprochen haben. Schulze teilt ihre Kritik: „Das liegt aber auch daran, dass die übergroße Mehrheit der Kritiker aus dem Westen kommt. Jedenfalls fällt es auf, wenn es anders ist. Als ich Anfang November bei der Jury zum Deutschen Hörspielpreis die Jurorinnen fragte (fünf Frauen), ob eine davon aus dem Osten sei, war die Empörung groß.“
Drei schöne und teure Literaturpreise für Schriftstellerinnen aus dem Osten machen noch keinen Sommer und dürfen nicht verdecken, wo’s mit der deutschen Einheit noch hakt. Und es hakt ab der zweiten Reihe gewaltig. Es waren zwei prophetische Sätze von Ulrich Greiner, dem damaligen Feuilletonchef der Zeit, 1990 in seinem Artikel über Gesinnungsästhetik: „Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird. Der Streit um die Vergangenheit ist ein Streit um die Zukunft.“ Die großen Erklärer im deutschen Feuilleton haben in den letzten 30 Jahren wacker bestimmt, was gewesen ist und welche Bücher man lesen sollte. „Wir Ostdeutschen sind für unsere Aufarbeitung selbst zuständig.“ Der Satz stammt vom Gründer und Verleger des Ch. Links Verlags, Christoph Links, derzeit beruflich „in Abschied“. Es ist das Fazit seines Lebens als Büchermacher in der Zeit der deutschen Einheit. Erst im vergangenen Jahr hat eine Jury ihn als ersten Ostdeutschen zum Verleger des Jahres bestimmt! Da gab’s seinen Verlag 30 Jahre!
Ich will die kleine Bilanz nicht betrübt schließen. Katja Oskamp (Jahrgang 1970, lebt in Berlin, zuletzt veröffentlicht: Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin) schreibt mir: „Natürlich begegnet mir noch immer westdeutsche Arroganz, inzwischen doppelt: nicht nur gegenüber der Marzahn-Autorin, sondern auch gegenüber der Fußpflegerin. Aber genauso begegnet mir ostdeutsche Abschottung. Wenn wir aber zu sehr unter uns bleiben, entgeht uns ja auch der gute Wessi. Aber vielleicht ist das egal, denn wir sind alt, sterben sowieso bald aus und fühlen uns abgeschottet wenigstens noch ein bisschen zu Hause.“
Oskamp hat recht. Sehr häufig wird in den nächsten Jahren die Debatte über die Lage der deutschen Einheit nicht mehr strapaziert werden. Das Thema verschwindet langsam im Hintergrund. Man sollte es meinen, mit 30 Jahren Abstand. Und dann empfängt man wieder Beispiele, die anderes bezeugen, Abstand, Trennung, Herablassung. Christoph Hein, ein deutscher Schriftsteller, seit seine Novelle Der fremde Freund 1982 im Osten und im Westen des Landes veröffentlicht worden ist und ein außerordentlicher Erfolg wurde. Hein gab in einem Interview mit der Zeit im März 2019 ein Beispiel seiner Erfahrung mit der Einheit: „Letztens ist mir während einer Buchvorstellung etwas Amüsantes passiert. Der westdeutsche Moderator, jemand, den ich sehr schätze, sagte, meine Novelle Der fremde Freund sei zunächst in der DDR veröffentlicht worden, erst später in Deutschland. Mit Deutschland meinte er die BRD. Das ist nun wirklich kein Skandal, aber es ist ja nicht untypisch. Im deutschen Feuilleton gibt es bis heute deutsche Schriftsteller und ostdeutsche Schriftsteller, aber keine westdeutschen Schriftsteller.“ Schulze konstatierte Ähnliches, und auch Hein ist weit davon entfernt, sich über diese Gedankenlosigkeit zu erregen. Er hat sie als „etwas Amüsantes“ verbucht und betont, dass sie „nun wirklich kein Skandal“ ist. Ist sie auch nicht, ein Skandal. Aber was ist mit Willy Brandts legendären Worten vom 10. November 1989: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört?“ Das Versprechen, vor 30 Jahren gegeben, ist nicht erfüllt. Oder?
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